Angst und Gesellschaft
Angststörungen sind nicht nur ein häufiges Problem (13% der Bevölkerung sind
betroffen, nach anderen Untersuchungen 10% der Männer und 19% der Frauen),
sondern sie zeigen in den letzten Jahren eine stetige Zunahme. Die direkten und
indirekten wirtschaftlichen Schäden werden auf 50 Milliarden Euro jährlich
geschätzt.
Dennoch ist das Problembewußtsein in Regierung und Allgemeinbevölkerung gering
und die Stigmatisierung Betroffener wie bei allen psychischen Störungen stark.
Aufklärungsarbeit und Maßnahmen zur Beseitigung sind nur zaghaft.
Insbesondere wird die Frage nach den Ursachen und der Rolle der Gesellschaft
bei Entstehung und Erhaltung von Angststörungen vermieden. Aber ohne die Frage
nach wesentlichen Ursachen ist die Frage nach Lösungen unsinnig - im
persönlichen wie gesellschaftlichen Maßstab. Ich möchte hier einige
Informationen über die Entstehung von Angststörungen geben und ihre
Beeinflussung durch das zwischenmenschliche Umfeld darstellen.
Inhalt
1 Angst, Panikattacken und Depressionen
2 Stigmatisierung (=Brandmarkung)
3 Gesellschaftliche Ursachen
4 Modell der Entstehung psychischer Störungen
5 Die kultivierte Angst
5.1 Gestörte Angst
5.2 Die kultivierte Angst als Organisationsgrundlage der Gesellschaft
5.3 Bedrohung, Aufgabe und Angst
5.4 Kultivierte Angst und Vernunft
5.5 Vernunft und Strafe
6 Gezielter Angstmißbrauch
7 Stabiles soziales Umfeld
8 Ellbogen
9 Der Mensch als soziales Wesen
10 Mobilität und Flexibilität
11 Politische Agitation
12 Desillusioniert?
1 Angst, Panikattacken und Depressionen
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Angst ist ein unangenehmes, aber normales und nützliches Gefühl angesichts
Bedrohungen. Sie löst Reaktionen aus (Flucht, Verharren, Angriff), welche der
Bewältigung der bedrohlichen Situation dienen. Darüberhinaus kommt ihr eine
wichtige Rolle bei der Organisation zwischenmenschlicher Beziehungen zu (siehe
Angst und Gesellschaft.
Nicht die Angst ist eine Krankheit, sondern ihr grundloses, unnützes Auftreten.
Deshalb lautet der derzeit gebräuchliche Begriff "Angststörung" - es ist keine
Störung des Betroffenen insgesamt, sondern eine Störung seiner Angstreaktion.
Die dient dann nicht mehr der Lösung von Problemen, sondern verhindert diese.
Sie schränkt sie die Lebensqualität ein und schafft selbst neue Probleme -
wodurch sich ein Teufelskreis ergibt.
Häufig treten Angststörungen zusammen mit anderen psychischen Störungen auf,
insbesondere Depressionen und Panikattacken. Das entspricht auch der
Auffassung, daß psychische Störungen weder vom Normalen noch untereinander
sicher abgrenzbar sind sowie auch der Beobachtung, daß psychische Störungen
während ihrer Entwicklung den Charakter ändern können.
Der Übergang des normalen sinnvollen Gefühls Angst zur Angststörung ist
fließend. Der Beginn ist meist (ausgenommen das "posttraumatische
Streßsyndrom") nicht sicher anzugeben. Aufgrund der langsamen Entwicklung
vergeht viel Zeit zwischen erstem Auftreten von Symptomen, eigener Erkenntnis
und der Suche nach Hilfe. Der durchschnittliche Zeitraum beträgt 7 Jahre.
2 Stigmatisierung (=Brandmarkung)
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Ein wesentlicher Faktor für das späte Eingeständnis und die noch spätere Suche
nach Hilfe bei psychischen Störungen ist die Stigmatisierung Betroffener. Dabei
ist wohl kaum bekannt, daß 48% aller Deutschen in ihrem Leben zumindest
vorübergehend unter einer solchen Störung leiden. Anders gesagt, mit gleichem
Recht könnte man diejenigen brandmarken, die nie an einer psychischen Störung
leiden (was natürlich eine absurde Vorstellung ist).
Das Verständnis für Menschen mit Angststörungen wie allen anderen psychischen
Störungen ist gering. Auch wenn einige, auch seriöse, Medien gelegentlich
informieren, halten sich mehrheitlich Vorurteile des "Verrücktseins"
Betroffener. Dabei und dadurch ist die Dunkelziffer hoch (aufgrund der
genannten langen Zeitspanne zwischen Beginn und Diagnosestellung). Hier sehe
ich eine erste gesellschaftliche Ursache der Entwicklung von Angststörungen -
sie werden solange verschwiegen und auch sich selbst gegenüber verleugnet, bis
der Zustand unerträglich ist.
Wer gibt schon gern zu, "verrückt" zu sein? Und wer würde sich schon zu den
"Verrückten" zählen, nur weil ihn die alltäglichen Probleme nachts nicht
loslassen und zu langfristigen Schlafstörungen führen? Schließlich hat die
Pharmaindustrie schöne bunte Scheinlösungen parat - also kein Grund zur Sorge.
Ebensowenig wie "streßbedingte" Herz-Kreislauf-Erkrankungen,
Verdauungsbeschwerden oder langfristige Abgeschlagenheit (amerikanisch klingt's
besser: "burn-out-syndrome").
3 Gesellschaftliche Ursachen
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Und wer stellt schon gern unliebsame Fragen, wenn ein hochverschuldeter
Handwerker seine Familie niedermetzelt oder ein Erfurter Schüler die
Lehrerschaft seines ehemaligen Gymnasiums dezimiert? Klar, Amokläufer,
Verrückte, Gestörte, da kann ja Keiner was dafür.
Kurzzeitig aufkeimender Verdacht, da könnten auch gesellschaftliche
Verhältnisse eine Rolle spielen (selbst Gerhard Schröder faselte am Tag nach
Erfurt kurzzeitig was von "Wertesystem"), treten schnell in den Hintergrund.
Nach wenigen Tagen hatte sich das politische Bla-Bla auf Waffengesetz und
Kontrolle von Gewaltdarstellungen eingeschossen.
Ich möchte auf zwei Tatsachen verweisen, welche Hinweise liefern, daß die
Entstehung von Angststörungen ganz wesentlich von gesellschaftlichen
Bedingungen abhängt.
1. In allen (soweit untersuchten) Ländern der "zivilisierten westlichen Welt"
nehmen Angststörungen seit Jahren stetig zu.
2. Das Verhältnis der Arbeitslosenzahlen Deutschland Ost/West ist mit dem der
Häufigkeit von Angststörungen (16,5% / 7%, Stand 2000) fast identisch.
Allerdings ist hier zu beachten, daß Ostdeutsche im Rahmen der Wende in allen
Lebensbereichen aus einem gewohnten Umfeld in ein ungewohntes gestoßen wurden
und die Arbeitslosigkeit nur einen Teil der gesellschaftlichen Einflüsse
darstellt.
4 Modell der Entstehung psychischer Störungen
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Der Zusammenhang psychischer Störungen mit den gesellschaftlichen Bedingungen
wird kinderleicht verständlich, wenn man das moderne Schwellenwertmodell ihrer
Entstehung betrachtet.
Aufgrund genetischer, sozialer und persönlicher Vorgaben hat jeder Mensch eine
"Angstschwelle", ab der dieses Gefühl ausgelöst wird. Wenn diese Schwelle zu
häufig und stark überschritten wird, entsteht eine Angststörung.
Das heißt: erhöht man die allgemeine Anspannung und die Häufigkeit
angstauslösender Situationen (Stressoren), werden immer mehr Menschen immer
häufiger ihre persönliche Angstschwelle überschreiten und bei ausreichender
Häufung eine Angststörung entwickeln. Hierbei spielt auch der sogenannte
"Angstkreis" eine Rolle, welcher verdeutlicht, daß die ständige Wiederholung
von Angstreizen zu einem selbsterhaltenden Teufelskreis wird.
Aus diesen Abbildungen (die modifiziert aus "Wie informiere ich meine Patienten
über Angst?" von Prof. H.-U. Wittchen et al. stammen) wird klar, daß wir
offenbar unsere Lebensbedingungen so gestalten, daß immer mehr Menschen ihre
Schwelle der Entstehung von Angststörungen überschreiten (sonst wäre die
stetige Zunahme nicht erklärbar). Einige dieser Bedingungen, neben der schon
genannten Brandmarkung, möchte ich anführen.
5 Die kultivierte Angst
5.1 Gestörte Angst
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Angst muß schnell in verschiedensten Situationen nützliche Reaktionen auslösen,
sonst hatte man vielleicht zum allerletzten Mal keine Angst. Sie muß lieber
zehnmal zuviel als einmal zuwenig auftreten.
Das begründet aber noch lange nicht, warum sich eine gestörte Angstreaktion
entwickelt und zur Krankheit mit weiter und zunehmender Verbreitung wird.
Normalerweise hat sie nämlich nach Bewältigung der Situation wieder abzuklingen
und schon gar nicht bei Gelegenheiten aufzutreten, welche beim besten Willen
keine Bedrohung erkennen lassen. Erst recht hat sie sich nicht zu
verselbständigen oder gar weitere Probleme auszulösen (Panikattacken,
Depressionen...).
Nun ja, der Angst kann man schlecht erklären, was sie falsch macht. Aber
vielleicht wir uns selbst: Wir selbst benutzen die Angst in
zwischenmenschlichen Beziehungen, um unsere Interessen durchzusetzen.
5.2 Die kultivierte Angst als Organisationsgrundlage der Gesellschaft
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Jede Handlung erfordert eine Motivation, welche positiv oder negativ sein kann.
Neben einer inneren Motivation (Ideale, Ziele, Abneigungen) werden
zwischenmenschliche Beziehungen durch äußere Motivation bestimmt (Ankündigung
und Vollzug von Belohnung und/oder Strafe). Je nach Ergebnis der erwarteten
Handlung werden durch Belohnung oder Bestrafung Glück/Freude oder
Schreck/Trauer/Schmerz/Enttäuschung/Wut ausgelöst. Angst und ihr Gegenspieler
Vorfreude haben ihren Platz zwischen Auftrag und Auswertung.
Die Wertigkeit von Belohnung und Strafe variiert je nach Art der
zwischenmenschlichen Beziehung und Aufgabenstellung. So unterscheidet sich der
Blumenkauf zum Valentinstag erheblich von der Steuererklärung ans Finanzamt
(auch wenn das Verpassen des Termins in beiden Fällen unangenehme Folgen haben
wird).
In der Gesellschaft steht aus unserem Empfinden die Bestrafung im Vordergrund.
Um bei dem letzten Beispiel zu bleiben: die Steuerrückzahlung wird als
selbstverständlich (und natürlich viel zu niedrig) hingenommen, eine
Nachzahlung aber eher als Strafe (und natürlich viel zu hoch) bewertet.
Dies hängt wohl auch damit zusammen, daß der Mensch Negatives eher wahrnimmt.
Niemandem wird bewußt, wenn er gesund ist, wohl aber die Krankheit. Das ist
auch verständlich, da Wohlbefinden keiner Reaktion und damit Wahrnehmung
bedarf, eine Krankheit oder andere Bedrohung aber sehr wohl.
5.3 Bedrohung, Aufgabe und Angst
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Ein wesentlicher Unterschied zwischen unmittelbarer Bedrohung und drohender
Bestrafung bei schlechter Erfüllung von Aufgaben in zwischenmenschlichen
Beziehungen ist der unterschiedliche Zeitrahmen.
Bei real bedrohlichen Situationen ist die Funktion klar: darüber werden
unmittelbare Reaktionen vermittelt (Verharren, Flucht, Angriff) und ein
Lernverhalten angeschoben (falls die Lösung zum Überleben geeignet war).
Zwischen Aufgabe, Handlung und Ergebnis besteht ein enger zeitlicher
Zusammenhang. Das Gelernte dient künftig der Vermeidung oder Bekämpfung der nun
bekannten Gefahr.
Auch bei der Organisation tierischer Gemeinschaften besteht ein unmittelbarer
zeitlicher Zusammenhang zwischen Handlung und Belohnung/Bestrafung. Folge ist
ebenfalls ein situationsbezogenes Verhalten.
Dieser zeitliche Zusammenhang ist in der menschlichen Gesellschaft häufig
aufgehoben. Zwischen Aufgabenstellung, Erfüllung und Auswertung können große
zeitliche (und räumliche) Abstände liegen. Dies führt zu einer Verlängerung der
"Angstphasen", welche zudem weitere unabhängige Situationen überlagern. Das
Gefühl "Angst" wird auch mit vom Auslöser unabhängigen Situationen in
Verbindung gebracht. Mit zunehmender Komplexität zwischenmenschlicher
Beziehungen und persönlicher Aufgaben nimmt dieses Problem zu.
Das ist übrigens nicht nur graue Theorie: längst ist bekannt, daß die
unmittelbare Bestrafung von Verkehrssündern einen wesentlich höheren
Erziehungseffekt hat, als das Foto des "Starkastens" nach Wochen oder Monaten.
5.4 Kultivierte Angst und Vernunft
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Annahme: Die meisten Menschen sind dumm und schlecht. Damit sie ihren Aufgaben
nachkommen, müssen sie eingeschüchtert werden.
Stimmt das? Ein Neugeborenes ist weder dumm (obwohl völlig unwissend) noch
schlecht (die Suche nach "Verbrechergenen" hat sich als Sackgasse erwiesen).
Wissen, Denken und Moral werden erst durch Erziehung, Bildung und
zwischenmenschliches Umfeld vermittelt. Das ist so banal wie grundlegend. Aus
den Erfahrungen und Vorstellungen ergeben sich die Grundlagen des Handelns.
Wenn durch Androhung von Strafe Angst ausgelöst und zur (negativen) Motivation
eingesetzt wird, wird sie zum festen Bestandteil zwischenmenschlicher
Beziehungen. Das betrifft sowohl das berufliche, gesellschaftliche wie auch
private Umfeld. Ich möchte dies als eine teils bewußte, teils unbewußte
Kultivierung der Angst bezeichnen.
Die Alternative wäre ein von Vernunft geprägtes Handeln, das freie Handeln
durch "Einsicht in die Notwendigkeit" (Hegel). Das betrifft nicht nur den, an
den eine Forderung ergeht, sondern auch den Fordernden. Diese Alternative
klingt wie eine unrealistische Zukunftsvision, ist aber im persönlichen Maßstab
durchaus anwendbar.
Einerseits sollten wir uns fragen, inwieweit unsere Forderungen an Andere und
andererseits, ob die an uns gestellten Forderungen vernünftig und erfüllbar
sind. Nur so kann jeder selbst verhindern, bei Anderen Angst auszulösen und
wird diejenigen besser verstehen, welche dies bei uns tun - und dadurch Angst
besser verstehen.
5.5 Vernunft und Strafe
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Mit dieser Vernunft meine ich nicht die völlige Handlungsfreiheit des
Einzelnen, was zur Anarchie führen würde. Die Bestrafung von Vergehen ist
durchaus sinnvoll. Wie bereits erläutert, muß sie aber in einem erkennbaren
zeitlichen Zusammenhang mit einem tatsächlichen Vergehen angemessen erfolgen
und sollte nicht als ständige Drohung für alle möglichen Vergehen (oder
Nicht-Vergehen i.S. ungerechter Bestrafung) im Raum stehen.
Obwohl ich hier nur auf Bestrafung eingegangen bin, ist Vieles sinngemäß auf
Belohnung anwendbar.
In der resultierenden unausgewogenen Wahrnehmung von Belohnung und Bestrafung
sehe ich eine wesentliche Voraussetzung einer "Angstbereitschaft", welche
bewußt und unbewußt in der Erziehung und anderen zwischenmenschlichen
Beziehungen gebahnt wird.
6 Gezielter Angstmißbrauch
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Neben dem genannten üblichen Gebrauch der Angst in zwischenmenschlichen
Beziehungen ist ein zunehmender Mißbrauch zu beobachten. Wieweit dieser
beabsichtigt oder unbeabsichtigt ist, mag sich Jeder selbst fragen.
Ständig werden Ängste vor Besitzstandsverlust und sozialem Abstieg geschürt.
Alltägliche Hiobsbotschaften in den Medien, Hartz-Konzept und Agenda 2010. Sehr
beliebt ist im Moment auch die Schürung von Ängsten vor Armut und
Pflegebedürftigkeit im Alter. Nachrichten und Werbung gehen dabei Hand in Hand
Der perverse "Humor" der Werbung ("Ich möchte mich für meine mickrige Rente
bedanken!") kann die Absicht nicht verschleiern: Hier werden gezielt Ängste
geschürt, um Menschen (oder besser ihr Geld) in die Hände von Banken und
Versicherungen zu treiben.
Ähnlich funktionierte die Argumentation zur Niederschlagung des Streiks der IG
Metall für Angleichung der Arbeitszeiten Ost an die West: Fordert nicht, sonst
verliert Ihr Alles.".
7 Stabiles soziales Umfeld
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Die meisten Angststörungen können überwunden werden. Allerdings nur mit den
Möglichkeiten des Betroffenen in seinem gesamten Umfeld. Dazu gehört in erster
Linie ein stabiles soziales Umfeld des Betroffenen, welches sich präventiv bzw.
kurativ auf Genese bzw. Prognose der Störung auswirkt. Auf gut deutsch:
Entstehung und Verlauf der Störung hängen ganz wesentlich vom
zwischenmenschlichen Umfeld ab. Diese Erkenntnis hat einen langen Bart.
So wird seit vielen Jahren in den meisten europäischen Ländern (Deutschland ist
eines der Schlußlichter) dazu übergegangen, Menschen mit auch schweren
psychischen Störungen nicht mehr in "Klappsmühlen" zu konzentrieren, sondern in
stabile Gemeinschaften einzufügen. Mit guten Erfolgen.
8 Ellbogen
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Diese Erkenntnis - daß ein stabiles soziales Umfeld vor psychischen Störungen
schützt und für einen Ausweg unabdingbar ist - wird in der Psychologie
weitgehend ignoriert.
Meist besteht das Therapieziel darin, den Betroffenen an des Umfeld anzupassen,
welches die Störung verursachte. Einer der Eckpfeiler ist (auch wenn mich für
diese Aussage wohl Einige in der Luft zerreißen werden) das Antrainieren von
Ellbogen. Das ist in einem Teil der Fälle erfolgreich, aber wird bei den
meisten daran scheitern, daß der Schwellenwert (siehe Schwellenwertmodell) für
den Einzelnen nicht beliebig verschoben werden kann (wenn das auch begrenzt
möglich ist). Vor Allem kann das nicht verhindern, daß täglich neue Fälle
auftreten - die Behandlungskapazität liegt schon jetzt weit unter dem Bedarf
und dieses Mißverhältnis wird sich vergrößern.
9 Der Mensch als soziales Wesen
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Der Mensch ist ein soziales (in Gemeinschaften lebendes) Wesen. Sowohl von
seiner körperlichen als auch psychischen Ausstattung ist er nur in dieser
Gemeinschaft überlebensfähig (auch wenn Rambo vielleicht ein paar Jahre in der
Wildnis überleben könnte, um dann einsam zu sterben). Erst das Sozialverhalten,
dessen höchster Ausdruck die Sprache und deren hochkomplexe Inhalte sind, macht
den Menschen zum evolutionären Erfolgsmodell.
Aber genau das untergraben wir. Konkurrenzdenken, Durchsetzungsvermögen,
Aggressivität (gegen Artgenossen und Umwelt) und unvernünftiger Konsum auf
Kosten der Mitmenschen und künftiger Generationen bestimmen das
medienvermittelte Ideal, zumindest in der "zivilisierten westlichen Welt" oder
dem (welcher Hohn des Begriffs) "christlichen Abendland".
Der gelebte Individualismus und die damit verbundene Entfremdung der Menschen
voneinander destabilisiert zunehmend die zwischenmenschlichen Beziehungen und
damit das optimale Umfeld des Menschen. Unsere antisoziale Gesellschaft ist
widernatürlich und somit im Wortsinn unmenschlich.
Und weil ich schon die Sprache als höchsten Ausdruck sozialer Beziehungen
genannt habe: Ihr allseits beobachtbarer Verfall (ich spare mir hier Beispiele,
lest einmal eine beliebige Tageszeitung) ist ebenfalls Ausdruck des sozialen
Zerfalls.
10 Mobilität und Flexibilität
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Diese neuen Götzen sind mit der psychischen Ausstattung vieler Menschen nicht
vereinbar. Richard Dennet warf 1998 in "Der flexible Mensch" die Frage auf, ob
der flexible Mensch menschenmöglich sei. Im Zusammenhang mit der Beobachtung
der Zunahme psychischer Störungen und der bekannten Tatsache, daß ein stabiles
soziales Umfeld vor psychischen Störungen schützen und ihre Überwindung fördern
kann, neige ich zu der Antwort nein.
Anders ausgedrückt: die "Gestalter" unserer Gesellschaft, nationale,
europäische und globale Politiker, gehen völlig an den Erkenntnissen über die
Psychologie des Menschen vorbei und versuchen, eine Welt zu gestalten, die mit
dem Homo sapiens sapiens nicht machbar ist. Solch haarsträubende Dummheit und
Engstirnigkeit (schließlich sind die genannten Tatsachen dem
Bundesgesundheitsministerium durchaus bekannt) wäre schon fast lustig, würden
die Folgen nicht für immer mehr Menschen zu einer starken Einschränkung der
Lebensqualität führen.
11 Politische Agitation
[zum Inhaltsverzeichnis]
Das mag nach politischer Agitation klingen. Aber das ist es nicht nur. Ich habe
versucht, in Seminaren und Einzelgespräch Menschen mit ihren persönlichen
Voraussetzungen und Erfahrungen aus Angststörungen herauszuhelfen. Und ich
mußte einsehen, daß ich einen der wesentlichsten Faktoren der Hilfe, ein
stabiles soziales Umfeld, nicht schaffen und noch nicht einmal Hinweise geben
kann, wie das in unserer derzeitigen Gesellschaft möglich sein soll.
Wahrscheinlich werden immer Menschen unter Angststörungen leiden. Aber nicht
notwendigerweise so viele und mit zunehmender Tendenz.
Nicht nur die Menschen sind "krank", sondern ihr gemeinschaftlicher Umgang
miteinander und der Umwelt. Und es wird wenig nützen, die Menschen mit
psychischen Störungen wieder in ein System einzupassen, welches locker zu mehr
Neuerkrankungen führen wird, als die Psychologen je kurieren können.
12 Desillusioniert?
[zum Inhaltsverzeichnis]
Ich möchte mit dem Text nicht ausdrücken, daß derzeit sowieso keine Hilfe bei
Angststörungen möglich ist. Im Gegenteil: Hilfe ist sofort und dauerhaft
möglich. Allerdings nur, wenn sich der Einzelne seiner Möglichkeiten und Fehler
bewußt wird und mit ihnen im vorhandenen Umfeld eine Lösung sucht und nicht
anstrebt, sich zu einem anderen Menschen zu entwickeln, der sich in unsere
unmenschliche und nicht langzeitstabile Gesellschaft einpaßt.
Torsten Reichelt