Da ich fast alle Wege zu Fuß zurücklege, habe ich viel Zeit zum Lesen
(funktioniert im Gehen wunderbar), Nachdenken und Beobachten. Dabei stelle ich
fest, wieviele Dinge man nicht wahrnimmt, während man durch die Welt und sein
Leben hastet, und somit das Schönste und Interessanteste verpaßt. Wie den
Bommelbaum und den Nasenbaum.
Diese fielen mir auf meinem Weg durch die Bürgerwiese (eine Parkanlage in
Dresden) auf. Zunächst stufte ich beide als Ahorn ein. Ich wunderte mich auch
noch wenig, als einige der Bäume im Sommer ihre Rinde abstießen (und aussahen
wie Büffel im Fellwechsel) - schließlich weisen auch andere Baumarten
Eigentümlichkeiten auf, wie z.B. Eichen verschiedene Blattformen und Eicheln
hervorbringen, die Korkeiche auch eine bekanntermaßen besondere Rinde.
Nun kam aber mit dem Herbst die Zeit der Samen. Und jetzt bemerkte ich, daß
einige der von mir in einen Topf geworfene Bäume nicht die Samen
hervorbrachten, welche ich vom Ahorn erwartete und mir schon als Kind auf die
Nase geklebt habe, sondern Früchte, die aussehen wie grüne Bommeln an der
danach benannten Mütze - ähnlich den Früchten der Kastanie (nicht den
Kastanien, sondern den grünen Stachelkugeln), nur flauschiger.
So nahm ich die Früchte beider Bäume mit (ich bedauere, daß ich ungewollt einen
Ast vom Bommelbaum brach, als ich zwei "Bommeln" pflückte). Ich zeigte sie
einem Freund - der den Bommelbaum dann als Platane identifizierte.
Ich habe mir im Nachhinein die Blätter von Ahorn und Platane sehr genau
angesehen, fand aber außer den meist tieferen Kerbungen der Ahornblätter und
ihrem längeren Stiel keine Unterschiede. Nun ja, die Platane hat auch
anscheinend im Durchschnitt größere Blätter.
Beim Nachdenken fiel mir dann ein Wort aus der Fibel ein, anhand derer ich ja
in die deutsche Schriftsprache eingeführt wurde: "Leo unter der Ulme" (oder so
ähnlich). Mir wurde klar, daß ich noch nicht einmal weiß, was eine Ulme ist,
außer, daß es ein Laubbaum sein muß.
Ich finde mein Unwissen über einfache Dinge in meiner unmittelbaren Umgebung
erschreckend. All mein Wissen (in Medizin, Philosophie, Elektronik und Anderem)
ist ebenso nur Stückwerk - und muß es wohl immer bleiben.
Aber schlimmer als alles Unwissen ist fehlende Neugier. Unwissend wird Jeder
geboren und sein Leben lang sein - aber was er wissen will, kann er auch
erfahren. Die menschlichen Erkenntnisse können niemals umfassend sein und
werden sich immer aus richtigen, falschen und - den überwiegenden - fehlenden
Erkenntnissen zusammensetzen. Andererseits sind ihnen keine Grenzen gesetzt -
solange man sie nicht selbst begrenzt, indem man die Neugier ablegt und nur
noch Vorgesetztes (und -gekautes) aufnimmt.
Wer seine Neugier ablegt, wird zum leichten Opfer von Bauernfängern, deren
Meinung er nicht nur übernimmt, sondern dann selbst weiterverbreitet. Nun ja,
wie soll auch der "einfache" Mensch Dinge durchschauen, die von "Experten"
(kenntlich an akademischen Graden und Funktionen / Positionen) so
ehrfurchtgebietend unverständlich dargelegt werden! Wahrscheinlich beruht die
offensichtliche Unlogik ja nur darauf, daß der Nicht-Experte mit seinem
"gesunden Menschenverstand" die Tiefe der Zusammenhänge nicht erfassen kann.
So sind Experten in der Lage, zu erklären, daß eine Senkung des Leitzinses die
Konjunktur belebt, andere weisen diesen Effekt eindeutig für die Erhöhung nach.
Der nicht neugierige Mensch wundert sich selbst nach Jahren nicht, warum beide
Maßnahmen nichts an der Wirtschaftskrise, zunehmender Staatsverschuldung und
steigender Arbeitslosigkeit ändern.
Nur am Rande: Konjunktur (die, -, -en) Wirtschaftslage, Ablauf des
Wirtschaftsgeschehens; z.B. steigende, fallende Konjunktur [lat.]. Schon an
diesem Begriff wird klar, wie Fremdworte in den Medien mißbraucht werden. Wenn
z.B. von "Konjunkturschwäche" die Rede ist, wird damit das verschleiert, was
richtigerweise "Wirtschaftskrise" heißen müßte. Die "globale
Konjunkturschwäche" ist also eine Weltwirtschaftskrise, welche so zwar richtig
benannt, aber von Vielen nicht verstanden wird. Wären die Menschen nämlich
neugierig, kämen sie schnell dahinter, welche wirtschaftlichen und politischen
Parallelen zur Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er / Anfang der 1930er Jahre
bestehen.
Der nicht neugierige Mensch läßt sich in der Sicherheit wiegen, die "Profis"
und "Experten" würden schon einen Ausweg finden; schließlich hören sie sich ja
gebildet an und zudem ist ihre Botschaft ("Wird schon wieder.") angenehm. Der
neugierige Mensch wird dagegen die offensichtlichen Widersprüche zwischen
Verkündigung und Realität erkennen - wie auch deren Ursache: Wirtschaftliche
Entwicklungen sind gesetzmäßig und kein "Experte" kann am Niedergang des
kapitalistischen Wirtschaftssystems etwas ändern. Ich behaupte darüber hinaus,
daß sich die "Experten" dessen selbst nicht bewußt sind - weil sie wiederum von
anderen "Experten" lernten und nie die Frage stellten, ob Bommelbaum und
Nasenbaum vielleicht doch nicht derselben Art zuzuordnen sind.
Ich hätte wohl noch vor wenigen Wochen Andere davon überzeugt, daß der
Bommelbaum Ahorn ist (und selbst jetzt weiß ich nicht, wie verwandt Ahorn und
Platane sind). Das hat mir klargemacht, daß ich selbst mir sicher erscheinendes
Wissen immer neu in Frage stellen und erweitern muß - und mich hüten sollte, es
jemals als abgeschlossen zu betrachten. War das Lenin, der sagte "Lernen,
lernen, nochmals lernen."?
Interessant ist, daß die Druiden (Angehörige der Intellektuellenkaste der
Kelten, neben Sehern und Barden) ihr Wissen immer nur mündlich übermittelten;
nach ihrer Auffassung würde das Wissen durch schriftliche Niederlegung
entheiligt. Eine gängige Ansicht ist, daß sie dadurch ihre elitäre Position
stützten, indem niemand außerhalb der Druidenschulen Zugang zu diesem Wissen
hatte.
Waren sie so egoistisch? Die auf Gemeinnutz beruhende keltische Gesellschaft,
deren ordnende Kraft sie waren, spricht eher dagegen. Ich vermute etwas
anderes: Sie wußten, daß die Welt und deren Erkenntnis dynamisch sind und jedes
geschriebene Wort schon mit seiner Niederschrift veraltet (eine Erfahrung,
welche ich auch beim Schreiben mache). Das geschriebene Wort, einmal als
richtig anerkannt, neigt zum Einfrieren als "ewige Wahrheit". Ein gutes
Beispiel hierfür ist der römisch-katholische Dogmatismus, welcher
jahrhundertelang den Erkenntnisfortschritt be- bis verhinderte. Dagegen bleibt
das gesprochene Wort jederzeit dynamisch - habe ich dazugelernt, spreche ich es
zukünftig anders, ergänze und erläutere es.
Nein, ich möchte Bücher nicht abschaffen oder ihren Wert mindern. Aber man
sollte sie als das verstehen, was sie sind: Momentaufnahmen menschlicher
Erkenntnis, teilweise richtig, teilweise falsch und immer unvollständig
(abgesehen von denen, welche trotz richtiger Erkenntnis zur gezielten
Irreführung Falsches vermitteln). Meine Hefte sind da keine Ausnahme.
Auch die Erforschung und der Vergleich der Genome (der Erbinformationen) von
Bommelbaum und Nasenbaum werden nur eine weitere Teilerkenntnis liefern.
Bommelbaum und Nasenbaum werden in Ewigkeit neue Rätsel aufgeben, und das ist
gut so. Als neugieriger Mensch kann ich mir nichts Schlimmeres vorstellen, als
Alles zu wissen - schlimmer ist höchstens, nicht Alles wissen zu wollen und
eigene wie fremde Unvollkommenheit und Fehlbarkeit zu leugnen.
Torsten Reichelt
25.10.2003