Dracula
T.: Was hältst Du von Graf Dracula?
H.-J.: Du meinst die Vampirgeschichten, welche massenweise über die Bildschirme
flimmern, mal als Horrorversion, mal mit niedlichen und netten Trickfilm-Vampis
für die Kleinen? Die Massen billigen bunten Schunds in den Buchhandlungen?
T.: Nee, ich meine den echten aus dem Roman von Abraham Stoker.
H.-J.: Naja, ein Gruselroman eben. Um die Leute von der Realität abzulenken.
T.: Nicht nur. Das ist ja ein weltbekannter und seit langer Zeit immer noch
populärer Roman. Aus meiner Sicht werden aber Romane nur dann bekannt, wenn die
Leser darin interessante Inhalte mit nachvollziehbaren Bezügen zur Realität
finden.
H.-J.: Du glaubst doch nicht etwa, an den Vampirgeschichten sei etwas dran?
T.: Nein - und im doppelten Sinne ja. Nein natürlich bezüglich der menschlichen
Untoten, die zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang herumlaufen oder
-fliegen und Anderen das Blut aussaugen und die wieder zum Vampir machen,
wogegen nur ein Holzpflock durch das Herz hilft.
H.-J.: Eben. Aber warum im doppelten Sinne ja?
T.: Nun, zunächst wäre da der medizinische Sinn. Was ist das für eine
Krankheit? Ein Mensch wird bösartig und aggressiv und beißt einen Menschen und
nach einer Weile wird der auch bösartig und aggressiv und beißt auch Menschen.
Gibt's auch bei anderen Säugetieren.
H.-J.: Die Tollwut?
T.: Genau. Möglicherweise flossen solche Beobachtungen in die Sagen über
Vampire, aber auch Werwölfe ein.
H.-J.: Na gut. Kann sein. Und der zweite Sinn?
T.: Die Romangestalten und Handlungen zeigen Parallelen zu alltäglichen und
beängstigenden Geschehnissen. Wen nennt Unseresgleichen manchmal auch
Blutsauger?
H.-J.: Na, die Kapitalisten.
T.: Genau. Sie saugen den Arbeitern den Mehrwert als Profit aus. Sie können
auch von nichts Anderem leben. Und wie im Roman werden sie immer stärker und
mächtiger, je mehr sie saugen. Tja, und machen sie das denn im Hellen?
H.-J.: Ah, ich weiß, was Du meinst. Nein, natürlich nicht. Sie versuchen, ihr
parasitäres Wesen zu verschleiern und bleiben sozusagen im Dunkeln. Und sie
beauftragen Handlanger mit der Führung ihrer schmutzigen Geschäfte. Wie ist das
im Roman?
T.: Genauso. Und nicht ganz zufällig ist es ein Anwalt, Jonathan Harker, der im
Auftrag einer Kanzlei nach Transsylvanien auf Draculas Schloß fährt, um mit
Graf Dracula die Formalitäten zu regeln, damit dieser in ein Haus in London
übersiedeln kann. Obwohl er immer wieder Bedenken hat und Schreckliches erlebt,
fühlt er sich in erster Linie seiner Aufgabe verpflichtet. Kennen wir doch: Er
macht eben nur seinen Job.
H.-J.: Ja, das kennen wir gut. Welche weiteren Parallelen hast Du noch gefunden?
T.: Ach, viel zu viele, um sie jetzt so schnell alle zu erklären. Z.B., daß
Dracula einem Opfer immer wieder das Blut aussaugt, es aber noch am Leben läßt,
worauf sich gutwillige Spender finden, dem Opfer Blut spenden, welches prompt
wieder ausgesaugt wird, womit sich am Schicksal des Opfers nichts ändert.
H.-J.: Ach ja, gerade jetzt in der Weihnachtszeit wird ja auch wieder für alle
möglichen Opfer der kapitalistischen Blutsauger gespendet.
T.: Das Opfer, genauer gesagt, seine menschliche Seite, stirbt, und übrig
bleibt die untote Hülle, welche ihrerseits zum Blutsauger wird. Erinnert
irgendwie an das Lumpenproletariat und proletarisierte Kleinbürgertum, welches
z.B. im Faschismus selbst zum Blutsauger an Seinesgleichen wird.
Oder nehmen wir die Mutter des Opfers, welche nachts im guten Willen wegen des
etwas miefigen Knoblauchgeruchs im verschlossenen Zimmer die ganzen
Schutzvorrichtungen entfernt und das Fenster öffnet - welcher Blutsauger ließe
sich da zweimal bitten? Woran erinnert Dich das?
H.-J.: Klar, an die sogenannte Maueröffnung, an die Zerstörung des
antifaschistischen Schutzwalls. Ja, viele Eltern dachten damals wohl wirklich,
ihren Kindern etwas Gutes zu tun.
In dem Roman gibt's doch auch einen Vampirjäger, Jan Van Helsing hieß der wohl.
Was ist mit dem?
T.: Abraham Van Helsing, ein holländischer Arzt und - man beachte - Philosoph.
Der nicht nur die Natur der grauenvollen Ereignisse durchschaut, sondern,
selbst ständig dazulernend und Schritte planend, sich immer wieder
korrigierend, den Kampf gegen die Untoten aufnimmt. Dabei versucht er, seine
Mitstreiter durch Überzeugung anhand objektiver Tatsachen zu gewinnen. Und
dennoch fallen Jene, obwohl schon zwischenzeitlich immer wieder zustimmend, oft
in Unwissenheit und Zweifel zurück, wollen das Ungeheuerliche nicht wahrhaben,
weil es nicht zur öffentlichen Meinung paßt. Letztlich verdächtigen sie sogar
Van Helsing, selbst der Verbrecher zu sein, welcher die Taten begangen hat.
H.-J.: Du meinst, so wie heute sogar alte SED-Mitglieder in die Lügen über die
sogenannten "Verbrechen des Stalinismus" einstimmen?
T.: Genau das meine ich. Tja, und letztlich ist interessant, wie Van Helsing
Vampire tötet.
H.-J.: Weiß doch Jeder: Holzpflock durchs Herz oder der Sonne aussetzen.
T.: Zum Holzpflock durchs Herz gehört auch noch das Köpfen. Bleiben wir bei der
Interpretation des Blutes als Kapital. Was macht dann das Herz?
H.-J.: Es hält das Kapital im Fluß. Ja klar, Kapital wirft nur durch seine
Bewegung Profit ab. Treibt man einen Pflock in diese Bewegung, z.B. durch einen
Streik, versiegt auch der Profit, der Lebenssaft der Kapitalisten. Tja, und der
abgetrennte Kopf wäre dann wohl die Staatsmaschinerie der Kapitalisten. Also
ein Hinweis, daß man ihnen die ökonomische und politische Macht entreißen muß,
um sie dauerhaft zu vernichten. Und die Sonne bedeutet, daß sie ihre
Lebensweise zwar im Dunkeln führen können, aber niemals, wenn Jeder ihre
Untaten erkennen kann.
Alles gut und schön, aber traust Du dem guten Bram Stoker da nicht bißchen viel
zu? Dracula als gesellschaftskritisches Werk?
T.: Das habe ich nicht behauptet. Obwohl, Stoker ist Ire, und die irische
Literatur ist voll von großartigen Werken, welche vom Einen handeln und Anderes
darin erkennbar machen.
Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Es ist auch egal. Denn Tatsache ist: in
"Dracula" finden wir viele richtige Beobachtungen und Analysen menschlicher
Handlungen, einschließlich der nützlichen und schädlichen Folgen bestimmter
Verhaltensweisen. Und die Erkenntnis, daß nur Wissen und ständiges Lernen sowie
die Überprüfung der Erkenntnisse durch ihre Anwendung zum Sieg gegen mächtige,
vor nichts zurückschreckende Gegner helfen.
H.-J.: Bloß gut. Ich dachte schon, du willst mit Kruzifix und Knoblauch in den
Klassenkampf ziehen.
... Ein paar Tage später ...
T.: Wir haben uns doch neulich über Graf Dracula unterhalten und darüber,
welche Wahrheiten darin enthalten sind. Ich habe das Buch jetzt fertig und noch
ein paar weitere wichtige Details gefunden.
H.-J.: Was zum Beispiel?
T.: Na, zum Beispiel, daß eben nicht genügt, die Blutsauger der Sonne
auszusetzen. Am Tage, im Hellen, sind sie zwar geschwächt, aber vernichtet
werden können sie nur durch Durchbohren des Herzens und Abtrennen des Kopfes.
H.-J.: Was Du als Entzug der Möglichkeiten zur Kapitalverwertung, also der
Bewegung des gesaugten Blutes durch das Herz, und Zerschlagung des Staates
interpretiertest?
T.: Das mit dem Staat hattest Du gesagt.
H.-J.: Aber Du doch sicher auch gedacht. Nun ja, tatsächlich genügt nicht, die
verbrecherischen Machenschaften der Kapitalisten ans Licht der Öffentlichkeit
zu zerren. Sie werden dadurch zwar behindert, aber am System, an ihrer Macht,
ändert sich dadurch nichts. So verhinderten Karl-Eduard von Schnitzlers
Bloßstellungen, Woche für Woche, über Jahre doch nicht die Konterrevolution.
Die Verbrechen zu sehen genügt eben nicht. Denn Viele glauben selbst das
Offensichtliche nicht, glauben nicht an den durch und durch verbrecherischen
Charakter der Blutsauger, die ja gar nicht anders können.
T.: Eben. Und hier sind wir gleich bei den nächsten Details. Auch Bram Stokers
Romangestalten bewaffneten sich auf vielfältige Weise. Nicht nur mit
spirituellen Waffen wie Knoblauch, geweihten Hostien und Kruzifixen, welche nur
mit sehr viel Verbiegungen in eine gesellschaftswissenschaftliche Symbolik
gequetscht werden könnten. Holzpflock und Hammer zum Durchbohren des Herzens
sind ja äußerst irdische Gewaltmittel, ebenso wie das Messer zum Abtrennen des
Kopfes. Doch nicht nur das: Die Romanhelden bewaffnen sich auch gegen die
normalen Gehilfen des Blutsaugers wie Wölfe, Ratten und auch Menschen.
H.-J.: Welche Menschen?
T.: Diese wurden schon im Anfangsteil des Romans benannt, als Gehilfen, welche
für Geld nicht nur die Kisten mit Erde füllen und transportieren, welche Graf
Dracula als Ruheplätze in London verteilen will. Sie verraten auch den Anwalt
Harker, welcher zwar die Formalitäten für Dracula erledigt, dem aber Zweifel
kommen. Darauf er versucht, über die Gelegenheitsarbeiter Kontakt zur Außenwelt
aufzunehmen. Die aber übergeben Dracula die Briefe. Sicher nicht rassistisch
gemeint, werden sie im Roman als Zigeuner und Slovaken bezeichnet, in der
Gegend der Handlung verachtete und niedere Arbeiten ausführende arme und
rücksichtslose Angehörige der sozial unteren Bevölkerungsschichten.
H.-J.: Also Lumpenproletarier.
T.: Genau. Typisch ist auch ihr Verhalten, als die Romanhelden Dracula
zerstören. Solange ihr Herr, wenn auch in einer Holzkiste, im Dunklen
verborgen, unter ihnen ist, verteidigen sie ihn ohne Rücksicht auf die eigene
Gefahr mit primitiven Waffen gegen die überlegenen, damals hochmodernen
Winchestergewehre der Helden und verletzen sogar einen von ihnen tödlich.
Sobald ihr Herr aber zu Staub zerfallen ist, ergreifen sie sofort die Flucht.
H.-J.: Lumpenproletariat eben. Dracula zerfällt zu Staub? Na, da haben wir aber
in der DDR und den anderen sozialistischen Staaten aber leider andere
Erfahrungen machen müssen.
T.: Tja, wir hatten eben nicht alle Blutsauger ihres Kapitals und ihres Staates
beraubt. In dem Zerfall zu Staub ist wohl etwas Anderes zu sehen und auch so
beschrieben: Daß der Tod des Untoten längst überfällig war und mit dem Zerfall
nur geschah, was in der Zeit als untoter Blutsauger hätte geschehen müssen. Ist
übrigens auch interessant: Dracula wird zu seinen Lebzeiten als ein
herausragender Kämpfer für sein Volk beschrieben, was tatsächlich auch einer
historischen Person entspricht.
H.-J.: Davon habe ich schon gehört. Das war doch Vlad, der Pfähler?
T.: Ja, Vlad Tepes, Beiname Dracul, der im 15. Jahrhundert Rumänien, genauer
gesagt die Walachei, von türkischen Invasoren befreite. Nun, in seinen Mitteln
der psychologischen Kriegführung war er nicht gerade zart besaitet, was ihm
auch den Namen "der Pfähler" eintrug.
H.-J.: Die Vorläufer der heutigen Blutsauger spielten in der Geschichte auch
eine fortschrittliche Rolle, nämlich in den bürgerlichen Revolutionen. Und
dabei ging's ja auch nicht gerade sanft zur Sache. Erst in der bürgerlichen
Gesellschaft, dem Kapitalismus, entwickelte sich ihr reaktionärer
verbrecherischer Charakter. Und auch ihr historischer Tod, die Zerschlagung des
Kapitalismus, ist längst überfällig.
T.: Tja, und nicht zuletzt äußert sich Stoker auch zur Gewaltfrage. Einmal
durch die unumgängliche Anwendung von Waffen ohne Zögern. Aufgrund der
Notwendigkeit ist jeder der Helden bereit, mit äußerster Konsequenz vorzugehen
und sein Leben einzusetzen. Auch gegen die geltenden Landesgesetze, welche die
Vernichtung von Blutsaugern ja nicht vorsehen.
H.-J.: Antragsformulare zur Durchführung einer Revolution wird's wohl auch
nicht geben.
T.: Nur noch ein paar wesentliche Details: Auch der Internationalismus und die
Globalisierung sind im Roman verankert: Die Helden stammen aus England, den USA
und den Niederlanden. Auch der Blutsauger agiert international. Und letztlich
beeindruckt der geraffte zeitliche Ablauf: Sobald die Helden irgendetwas
Nützliches erfahren, handeln sie planmäßig, koordiniert und ohne jede
Verzögerung. Dazu gehört auch, Dracula an der Ausführung seiner Absichten zu
hindern, aber das primäre Ziel ihres Handelns ist zu jedem Zeitpunkt seine
Vernichtung.
H.-J.: Tja, Unterschriftensammlungen, Bittschriften, Gedenkveranstaltungen und
Demonstrationen sind eben wie Kruzifixe, geweihte Hostien und Knoblauch gegen
Blutsauger wenig wirksam und lassen ihnen nur die Zeit, ihre Macht zu festigen
und sich auf Angriffe vorzubereiten.
Das klingt wirklich nach einem interessanten Buch. Die Vielzahl richtiger
Details spricht wohl eher gegen einen Zufall. Wann entstand das Buch denn?
T.: 1897. Abraham Stoker lebte von 1847 bis 1912, also in einer Zeit, als wohl
Keiner um die Wahrnehmung der Verbrechen in der kapitalistischen Gesellschaft
herumkam. So fällt auch die Pariser Kommune z.B. in Stokers junges
Erwachsenenalter. So unwahrscheinlich ist also nicht, daß
gesellschaftskritische Überlegungen in den Roman einflossen, auch wenn mir
nicht bekannt ist, daß Stoker sich je aktiv an Kämpfen oder theoretischen
Auseinandersetzungen beteiligte.
H.-J.: Wie auch immer, aber ich sehe nicht, wie uns so ein Buch weiterhelfen
soll. Da gibt's doch Bücher, welche die gleichen Wahrheiten im Klartext
enthalten.
T.: Natürlich. Aber auch hierzu steht etwas in dem Buch. Neben den erwähnten
Details enthält es auch ein paar gute philosophische und psychologische
Erkenntnisse. Zum Beispiel sinngemäß, daß das Unterbewußtsein an zunächst
falsch eingeordneten Informationen weiterarbeitet und daraufhin auch später
noch Erkenntnisse oder einen Beitrag dazu liefert. Gerade Du arbeitest ja auch
mit allen möglichen sprachlichen, visuellen und musikalischen Mitteln, um
Andere zu Erkenntnissen zu bringen. Warum nicht mit Vampirgeschichten? Besser
gesagt mit DER Vampirgeschichte der Weltliteratur. Der übliche andere
Horrorschund wird davon kein Stück besser. Und der wird ja auch gezielt
eingesetzt, um Bewußtsein und Unterbewußtsein abzulenken, zu verwirren und
irrezuführen.
H.-J.: Ja, die Vielfalt und Qualität unserer Informationen kann gar nicht groß
genug sein.
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