Ein Gespräch im Jenseits


Jesus: Guten Tag, Herr Marx.

Karl: Guten Tag, Herr Christus. Jaja, ich weiß, das ist kein Name, sondern ein Titel. Aber man sagt ja auch Herr Doktor.

Jesus: Ich glaube, wir können uns solche Förmlichkeiten schenken. Schließlich sind wir beide hier gelandet. Ich heiße Jesus.

Karl: Und ich Karl. Übrigens: das hat mich schon sehr gewundert, daß dieses Jenseits nicht nur existiert, sondern ich auch hineingekommen bin.

Jesus: Was wundert Dich daran? Da Du Materialist bist, erkennst Du ja nun diese objektive Realität. Von Wunder kann also keine Rede sein.

Karl: Ich meinte das auch im Sinne von staunen. Vor Allem darüber, hierhergekommen zu sein und nicht in den Feuersee.

Jesus: Nettes Bild, das mit dem Feuersee, oder? Die Propheten waren manchmal richtig kreativ, ihren Erkenntnissen und Forderungen den nötigen Nachdruck zu verleihen. Hätten sie nur vom seelischen Tod gesprochen, wen hätte das interessiert?

Aber wieso dachtest Du, Kandidat für den "Feuersee" zu sein?

Karl: Ich habe schließlich Deine Religion nach Strich und Faden zerpflückt, Du weißt schon, "Opium des Volkes" und so.

Jesus: Das war wirklich eine schwache Leistung von Dir. Du hast nämlich nicht "meine" Religion zerpflückt, sondern den Götzendienst, den die Kirchen daraus gemacht hatten. Bei der sonstigen Klarheit Deiner Analysen hat mich diese Undifferenziertheit schon erstaunt. Da war Mohammed wesentlich besser, die Religion vom Religionsmißbrauch durch Namenschristen zu unterscheiden.

Vielleicht ist Dir ja schon aufgefallen, daß man hier kaum Priester, Pfarrer oder Bischöfe und gar keinen Kardinal oder Papst trifft.

Letztlich hast Du aber nichts verbreitet, dem ich nicht zustimme.

Karl: Angesichts dessen, was die Kirchen zu meiner Zeit lehrten und ihre Vertreter taten, konnte meine Analyse eben nicht anders ausfallen. Du hast ja selbst gesagt, "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.".

Jesus: Richtig. Aber ich sagte es zu denen, welche die Religion auch schon verraten hatten und entweder egoistisch mißbrauchten oder zur selbstgefälligen Pseudoreligion umwandelten. Deshalb ist der größte Vorwurf den falschen Lehrern zu machen und nicht Menschen wie Dir, die richtigerweise diesen Mist als das brandmarkten, was er ist: Mist....

Karl: ... Kurz eingeworfen: Würden sich Deine Jünger nicht an solcher Vulgärsprache stoßen?

Jesus: Das wäre neu. In den Evangelien sind zwar nur "Ottergezücht und Schlangenbrut" überliefert, aber ich versichere Dir, das waren noch die harmlosesten Wörter in meinen Strafpredigten. Nur klare Worte führen zum Verständnis. Und dennoch war ich offensichtlich noch nicht deutlich genug. Die Kirchen haben mir so ziemlich jedes einzelne Wort im Mund herumgedreht und Eigenes hinzugedichtet.

Karl: Hör mir bloß auf! Ich kenne das zur Genüge. Was ich unter dem Begriff "Marxismus"schon alles hören mußte! Marxist darf sich anscheinend jeder nennen, der meinen Namen kennt, und sei es nur der Familienname!

Jesus: Siehste!

Karl: Zum Glück habe ich selbst mein Wissen schriftlich festgehalten. Mich wundert, Entschuldigung, ich staune, daß Du das nicht tatest. Ich will Dir ja nicht zu nahe treten, aber bist Du Analphabet?

Jesus: Natürlich nicht, wie hätte ich sonst so genau die Schriften meiner Zeit kennen können? Aber bei geschriebenen Texten bestehen immer zwei Probleme, insbesondere wenn der Autor hohes Ansehen genießt, wissenschaftliches, philosophisches oder religiöses. Das einmal Geschriebene droht, auf unbestimmte Zeit festgeschrieben zu bleiben und weiterführende Erkenntnisse zu behindern. Zum Anderen ist ja auch die eigene Erkenntnis niemals abgeschlossen. Jedes Wort veraltet, bevor die Tinte trocken ist. Hand aufs Herz: Würdest Du "Das Kapital" heute genauso schreiben?

Karl: Sicher nicht. Ich würde einfacher formulieren und noch stärker abstrahieren. Ich habe auch schon überlegt, Einiges mit Gleichnissen aus der Alltagserfahrung zu untermauern; eine prima Idee von Dir.

Dennoch: "Das Kapital" mußte geschrieben und breit zur Verfügung gestellt werden. Es ist ja nicht schlecht, nur weil es verbessert werden kann.

Jesus: Und hier triffst Du den Nagel auf den Kopf: Du konntest durch Deine Bücher massenwirksam werden. Zu meiner Zeit war der Buchdruck eben noch nicht erfunden, so daß für mich effektiver war, in verschiedenen Gegenden direkt zu lehren.

Karl: Hmm, das stimmt wohl.

Mal was Anderes: Was ich nicht verstehe: Ich ging wissenschaftlich vor, leugnete und leugne Gott. Ich wies nach, daß die gesellschaftliche Entwicklung Gesetzmäßigkeiten unterliegt und insbesondere, daß die ökonomische Basis den gesellschaftlichen Überbau hervorbringt. Du als Idealist hast dagegen verkündet, der Mensch müsse nur umdenken, um aus jeder beliebigen Gesellschaftsordnung heraus das "Reich Gottes" zu errichten. Produktionsverhältnisse und damit die Bedingungen ihrer grundlegenden Veränderung hast Du nie erkannt.

Wie stehst Du jetzt dazu?

Jesus: Zuerst einmal: Ich war nie Idealist. Ich habe immer von Eigenverantwortung und konsequentem Handeln innerhalb der objektiven Gesetzmäßigkeiten unterworfenen Welt gepredigt.

Natürlich wußte ich, daß die Errichtung des Reiches Gottes bestimmte gesellschaftliche Bedingungen erfordert. Zuerst mußten Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus und Sozialismus durchlebt werden, um danach das Reich Gottes zu errichten, welches Du Kommunismus nennst. Anscheinend hast Du die Bibel, wenn überhaupt, nicht genau genug gelesen. Ich werde dort richtig zitiert: "Zuerst muß solches alles geschehen.". Und zwar genau da, wo ich von der Zukunft rede und die unmenschlichen zukünftigen Gesellschaftsordnungen schildere.

Karl: Das ist aber nur mit sehr viel gutem Willen aus der Bibel zu entnehmen.

Jesus: Du Witzbold! Kannst Du Dir im Geringsten den Wissensstand und die gesellschaftlichen Verhältnisse vorstellen, unter denen ich lehren mußte? Ein Wanderprediger unter vielen, ausgesetzt den Irrlehren der Pharisäer, Sadduzzäer, wie auch der zelotischen Revoluzzer. Ganz abgesehen von der Römischen Besatzungsmacht. Frage Dich selbst: War die kommunistische Revolution, die Errichtung des Reiches Gottes, an der Tagesordnung?

Karl: Nein. Aber eine Frage habe ich noch: warum hast Du Dich kreuzigen lassen? Das war doch eindeutig Deine bewußte Handlung; Deine Jünger wollten Dich sogar gewaltsam verteidigen.

Jesus: Das war die objektive Notwendigkeit. Wenn die Zeit der sozialen Revolution nicht reif ist, muß man Alles tun, sie baldestmöglich und mit allen Mitteln herbeizuführen. Ich hatte keine Wahl. Nur meine Kreuzigung konnte zur Verbreitung meiner Erkenntnisse führen, die letztlich auch Dich beeinflußt haben. Selbst die entstellte Religion brachte Dich dazu, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Und Du hast den Mißbrauch richtig erkannt, wenn auch nicht meine Absicht.

Übrigens bin ich nicht am Kreuz gestorben. Das war eine extreme Maßnahme, mich aus der Schußlinie zu bringen und die Auferstehung zu inszenieren.

Karl: Also Alles nur Schwindel?

Jesus: Wieso Schwindel? Offiziell bin ich gestorben, sogar hochoffiziell durch eine überprüfbare Hinrichtung, und ich könnte noch nicht einmal selbst sagen, wie tot ich wirklich war. Versuch Dir nur mal die Prozedur der Kreuzigung vorzustellen, und das nach etlichen anderen Mißhandlungen einschließlich Auspeitschung.

Übrigens ist nicht entscheidend, wie Du das siehst, sondern welche objektiven Auswirkungen dieses Ereignis hatte.

Karl: Aber genau das ist das Problem: 2000 Jahre Christentum haben noch nicht ins "Reich Gottes" geführt.

Jesus: Wie 150 Jahre Marxismus nicht zum Kommunismus. Wichtig ist, daß Beides nie wieder vergessen werden kann.

Karl: Und wie geht's weiter?

Jesus: Da kommen gerade Abraham, David, Salomon, Moses, Mohammed, Münzer, Goethe, Engels, Lenin, Gandhi, Castro und ein paar Andere. Vielleicht versuchen wir mal, unsere richtigen Erkenntnisse zu vereinen, die falschen über Bord zu werfen und die fehlenden zu ergänzen. Du weißt schon: gemeinschaftliches Handeln im gemeinsamen Interesse.

Karl: Der Errichtung des Kommunismus!

Jesus: Der Errichtung des Reiches Gottes!

Karl: Des Reiches Gottes!

Jesus: Des Kommunismus!

Karl und Jesus: Oder so. (lachen)


21.02.2004

Torsten Reichelt
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Das Umdenken