Einführungsvortrag zur MASCH am 16.03.2004
Thema: Versuch einer Analyse von Ursachen und Bedingungen für die zeitweilige
Niederlage des Sozialismus in der DDR
Vortrag 1: Ursachen
Inhalt
Einleitung
1 Fehler
1.1 Ideologische Arbeit
1.2 Gesellschaftswissenschaftliche Arbeit
1.3 Kontrollmechanismen gegen Machtmißbrauch
2 Widersprüche
Einleitung [zum Inhaltsverzeichnis]
Vor ziemlich genau 14 Jahren siegte die Konterrevolution und restaurierte den
Kapitalismus in der DDR. Zeitgleich in den meisten anderen damals
sozialistischen Ländern.
Wir möchten heute einige Ursachen benennen, welche wir erkannt haben. Das soll
vor Allem Klarheit darüber schaffen, daß dieser vorübergehende Sieg der
Konterrevolution kein Ausrutscher der Geschichte war, sondern gesetzmäßig.
Ursachen und Bedingungen sind benennbar, auch wenn uns heute keine umfassende
Darstellung gelingen wird.
Ich wurde kürzlich angefeindet. Auf eine Äußerung, daß sich große Teile des
Volkes der DDR gegen Staat und Partei wandten und so der Konterrevolution zum
Sieg verhalfen, warf ich ein "Mit Recht!".
Ich stehe nach wie vor dazu. Die Konterrevolution wird immer wieder gelingen.
So lange, bis wir Kommunisten, die führende Kraft des sozialistischen Aufbaus,
dieser Aufgabe gewachsen sind. Unsere Aufgabe ist, den Sozialismus nach innen
und außen zu stabilisieren und gleichzeitig die Volksmassen zu überzeugen, daß
der Sozialismus IHRE verteidigungswürdige Gesellschaftsordnung ist. Können wir
das nicht, werden diese Massen MIT RECHT diese Gesellschaftsordnung so lange
immer wieder zerstören, bis sie von ihrer Richtigkeit auch innerlich überzeugt
sind.
Natürlich existieren auch äußere konterrevolutionäre Kräfte, solange
Kapitalismus existiert. Sie werden immer neue Mittel und Wege suchen, den
Sozialismus und Kommunismus zu verhindern und zu zerstören. Aber sie brauchen
für ihren Erfolg den Nährboden und die Schlupflöcher, die wir ihnen lassen.
Die Geschichte wird nicht von Wunschdenken bestimmt, sondern von
Gesetzmäßigkeiten. Entweder wir erkennen und nutzen sie, oder sie werden
unabhängig von uns wirken. Wenn Kommunisten hier in Dresden heute wieder im
Kapitalismus leben müssen, können sie die Schuld nicht Anderen geben. Objektiv
waren sie - besser: wir - als führende Kraft unfähig.
Genug der Vorrede. Welche Fehler wurden gemacht?
1 Fehler [zum Inhaltsverzeichnis]
Sicher ließe sich eine Vielfalt von Gründen des Scheiterns des Sozialismus
anführen. Die meisten davon sind aber symptomatische, das heißt, Folgen von
ursächlichen Fehlern beim sozialistischen Aufbau. Auch unter der Gefahr, der
Vereinfachung beschuldigt zu werden, möchte ich die drei anführen, aus denen
sich die Folgefehler ergaben:
1) Die ideologische Arbeit wurde vernachlässigt.
2) Die gesellschaftswissenschaftliche Arbeit wurde vernachlässigt.
3) Die Struktur des Staates enthielt keine wirksamen Kontrollmechanismen gegen
Machtmißbrauch und Egoismus.
Dabei sind erster und dritter Punkt bei genauer Betrachtung wiederum Folgen des
zweiten, also der vernachlässigten gesellschaftswissenschaftlichen Arbeit. Das
ist auch logisch: Der Kommunismus ist wissenschaftlich, was eine ständige
Weiterentwicklung erfordert.
Zu den einzelnen Punkten:
1.1 Ideologische Arbeit [zum Inhaltsverzeichnis]
Vom Unterricht in den Fächern Heimatkunde über Staatsbürgerkunde und Geschichte
bis zur politischen Schulung und dem Pflichtfach Marxismus-Leninismus in allen
Studienrichtungen - ständig wurde ideologische Arbeit geleistet. Parteien und
insbesondere die Massenorganisationen wurden auch außerhalb von Schule und
Beruf aktiv; die sogenannten "gesellschaftlichen Aktivitäten" beeinflußten
praktisch alle Lebensbereiche.
Leider nicht erfolgreich. Wo sind denn heute die 2,3 Millionen "Kommunisten",
die als Mitglieder der SED der "führenden Kraft" angehörten? Wo die Millionen
Mitglieder der Pionierorganisationen, FDJ, GST, FDGB und anderen, die über
Jahre die Entwicklung eines sozialistischen Bewußtseins bei ihren Mitgliedern
anstrebten? Diese Mitglieder bescheinigten sich das auch regelmäßig
gegenseitig, um Auszeichnungen und Prämien zu erhalten.
Dogmen und Phrasen wurden nachgeplappert, je häufiger und lauter, desto
Karriere. Das war Opportunismus und nicht Kommunismus. Soweit ich mich
erinnere, schloß ich M/L beim Studium mit Note 2 ab (in meinem Zeugnis von 1991
steht das nicht mehr). Heute muß ich sagen, es hätte Note 5 sein müssen, da ich
den Kommunismus weder verstanden hatte noch dahinterstand. Damit gebührt aber
auch meinen Lehrern Note 5. Denn inzwischen ist mir klar, wie einfach und
logisch der Kommunismus ist, gleichermaßen leicht zu verstehen wie zu erklären.
Ich leugne nicht, daß auch bewußte Kommunisten SED-Mitglieder waren, aber weder
mehrheitlich noch bestimmend. Bevor jetzt das große Kopfschütteln und Buh-Rufen
einsetzt, möchte ich meine Frage wiederholen: wo sind die 2,3 Millionen
Kommunisten oder wenigstens eine Million oder 100 000?
Wie der Herre, so's Gescherre. Was von den Bekenntnissen der meisten DDR-Bürger
zum Sozialismus zu halten war, zeigte sich, als sie sich für 150,- DM
Begrüßungsgeld kaufen ließen. Ich übrigens auch, genauer gesagt für 190,- DM,
da die Stadt München noch mal 40,- DM drauflegte, die ich mir nicht entgehen
ließ.
Die Eigentumsverhältnisse sind für eine Gesellschaftsordnung bestimmend. Aber
wurden sie von den DDR-Bürgern richtig erkannt? Faktisch bestand mehrheitlich
Volkseigentum. Nur war das "dem Volk" nicht bewußt. Die Mehrheit meinte, das
gehöre Keinem so richtig oder dem "Staat", und behandelte es deshalb auch nicht
als persönliches Eigentum. Deutlicher Ausdruck dessen war der fehlende
Widerstand gegen die Verschleuderung an die Bourgeoisie mittels deren
Instrument, der "Treuhandanstalt".
Der Mehrheit der DDR-Bürger war der Wert der sozialen Sicherheit und des
Gemeinschaftsdenkens ebenfalls nicht bewußt. Auch das wird heute besonders
deutlich. Bis zum Erbrechen muß ich bei der Straßenagitation von DDR-Bürgern
sinngemäß hören: "das hatten wir schon und wollen es nicht mehr" - trotz der
derzeitigen asozialen Politik im Interesse des Großkapitals.
Kurz und schlecht: die sozialistische ideologische Arbeit in der DDR und
offensichtlich auch den anderen sozialistischen Ländern war der
kapitalistischen unterlegen. Dies schuf die breite Grundlage für die
gesellschaftliche Niederlage, die soziale Konterrevolution.
1.2 Gesellschaftswissenschaftliche Arbeit [zum Inhaltsverzeichnis]
In der DDR gab es reichlich "Gesellschaftswissenschaftler". Ein Beispiel derer
Wissenschaftlichkeit durften wir selbst hier in Gestalt des Doz. Dr. Dr. Horst
Oertel mit seinem reformistischen Unsinn, dem "Paradigmenwechsel", erleben.
Ursprung, Gegenstand und Ziel der Gesellschaftswissenschaft ist die Praxis.
Leider war der Gegenstand ihrer "Wissenschaft" häufig die Theorie oder die
Geschichte. Noch heute klingt mir das wirklichkeitsferne, fremdwortgespickte
und gedrechselte Geschwafel in den Ohren. Die "Gesellschaftswissenschaftler"
mögen mir Uneinsichtigkeit in ihr detailliertes und tiefgründiges Wissen
vorwerfen - ich werfe ihnen vor, daß wir wieder im Kapitalismus leben müssen.
Die Gesellschaftswissenschaft muß mehr als jede andere jederzeit auf der Höhe
der Zeit sein und auf veränderte Bedingungen kurzfristig und praxiswirksam
reagieren. Das tat sie in der DDR ganz offensichtlich nicht. Trotz
umfangreicher sogenannter gesellschaftswissenschaftlicher Arbeit wurde kaum
tatsächlich wirksame geleistet. Strategie und Taktik des sozialistischen
Aufbaus wurden nicht an der Praxis orientiert, sondern an Wunschvorstellungen.
Fehler und Rückschläge wurden entweder nicht erkannt oder nicht öffentlich
benannt - und schon gar nicht bekämpft.
Dadurch entfernte sich die Politik zunehmend von der gesellschaftlichen
Realität in der DDR. Sie fand in der Konterrevolution 1989 ihren folgerichtigen
Abschluß.
Einen Gipfel der Unwissenschaftlichkeit lieferte Erich Honecker mit seinem
August-Bebel-Zitat: "Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel
auf.". Ironischerweise hatte er damit recht. Nicht Ochs oder Esel, sondern
selbsternannte Kommunisten und Gesellschaftswissenschaftler haben mit ihrer
Realitätsferne den Sozialismus aufgehalten, unterstützt durch bekennende
Verräter wie Michail Gorbatschow. Der war mit Sicherheit nicht der einzige
bewußte Antikommunist und bestochene oder persönlich motivierte Lakai des
Kapitals.
1.3 Kontrollmechanismen gegen Machtmißbrauch [zum Inhaltsverzeichnis]
Der "real existierende Sozialismus" war eine neue Form einer egoistischen und
parasitären Gesellschaftsordnung, welche sich trotz sozialistischer
Produktionsverhältnisse herausbilden konnte. Die Bereicherung erfolgte nicht
aufgrund des Eigentums an Produktionsmitteln, sondern aufgrund des Einflusses
von Funktionären auf die Verteilung des gesellschaftlichen Mehrprodukts zu
eigenen Gunsten.
Das ist am ehesten vergleichbar mit dem Verhalten bürgerlicher Parlamentarier
oder Unternehmensvorständen, die zwar auch nicht Eigentümer der
Produktionsmittel sind, aber eben auch über ihre Einkünfte selbst zu
entscheiden haben.
Manchem mögen Wandlitz und Erichs Jagdreviere gegenüber der hemmungslosen
Bereicherung in der BRD lächerlich erscheinen. Entscheidend ist aber die
sichtbare Tendenz: Die Entscheidungsträger im Sozialismus hatten ganz
offensichtlich kein sozialistisches Verhalten und also auch kein
sozialistisches Bewußtsein. Ihren eigenen Egoismus und die Konsumorientierung
machten sie so zur Grundlage der gesellschaftlichen Entwicklung. Ihr
nichtsozialistisches Wertesystem übertrug sich auf die Bevölkerung.
Wer führende Kraft sein will, muß auch Vorbild sein. Das waren viele Mitglieder
in Partei und Regierung offensichtlich nicht. Gerade die "führende Kraft" war
so zum Hemmschuh des sozialistischen Aufbaus geworden.
Diese Entwicklung war auch gesetzmäßig. Wenn eine herrschende Schicht (ich rede
hier nicht von einer Klasse) keiner wirksamen Kontrolle unterliegt, wird sie
unweigerlich selbstverstärkendes egoistisches Verhalten entwickeln. Die
Erklärung, warum das so ist, würde den heutigen Rahmen sprengen.
Die Ursache mangelnder Kontrolle war die nur leicht veränderte Übernahme der
bürgerlich-parlamentarischen Scheindemokratie. Einmal gewählt, konnten
Funktionäre selbst die Richtlinien für Machterhalt, -ausübung und -mißbrauch
festlegen. Hinzu kam der Anspruch auf Allwissenheit der selbsternannten und
selbsterhaltenden führenden Kraft: "Die Partei, die Partei, die hat immer
Recht", ganz egal, ob die Meinungen (von Erkenntnissen kann man nicht sprechen)
und das Verhalten offensichtlich vom sozialistischen Aufbau wegführten.
Auch hier brauche ich mich nicht auf eigene Behauptungen stützen, sondern kann
als Bestätigung die erfolgreiche Konterrevolution anführen. Deren Massenbasis
wurde unter Anderem durch den Unmut der Bevölkerung gegenüber Partei und Staat
geschaffen. Ich gehörte 1989 selbst zu den Demonstranten, nicht gegen, sondern
für den Sozialismus, aber gegen eine Regierung und einen Staat, die dessen
weiteren Aufbau behinderte.
Ohne wirksame Kontrolle der Führung, insbesondere der moralischen Integrität
ihrer Mitglieder, wird auch jeder weitere Versuch eines sozialistischen Aufbaus
scheitern. Diese Kontrolle kann eben nicht von innen erfolgen. Solche
Mechanismen sind leicht einzurichten und können nur egoistischen Heuchlern
mißfallen, die in der führenden Kraft ohnehin nichts zu suchen haben. Aber das
ist nicht der Inhalt der heutigen Veranstaltung.
2 Widersprüche [zum Inhaltsverzeichnis]
Bekanntermaßen sind Widersprüche Triebkräfte gesellschaftlicher Veränderungen.
Die drei von mir betrachteten Ursachen der erfolgreichen Konterrevolution
lassen solche Widersprüche erkennen. Dies waren natürlich keine zwischen
Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, sondern:
1. der Widerspruch zwischen sozialistischen Produktionsverhältnissen und
egoistischem und konsumorientiertem Wertesystem bzw. mangelndem sozialistischem
Bewußtsein,
2. der Widerspruch zwischen Anforderungen an die gesellschaftswissenschaftliche
Arbeit und der unzureichenden unmittelbaren Einflußnahme der
Gesellschaftswissenschaftler auf die Politik,
3. der Widerspruch zwischen den Anforderungen an die führende Kraft und den
sozialistischen Staat und der strukturellen wie organisatorischen Nichteignung,
diesen gerecht zu werden.
Diese Widersprüche sind - zumindest nach meiner Erkenntnis - leicht lösbar und
werden den nächsten Versuch des sozialistischen Aufbaus nicht mehr vereiteln.
Jedenfalls, wenn sie nicht in Vergessenheit geraten.
18.03.2004
Torsten ReicheltZur Hauptseite Zur Textübersicht