Vom Geben und vom Nehmen
Warum funktioniert unsere Wirtschaft nicht? Wie entsteht Armut? Was verursacht
die scheinbar unaufhaltsame Umweltzerstörung?
Ganz einfach: Das Handeln der Meisten wird vom Nehmen bestimmt, von der Frage
"Was habe ich davon?". Aufgrund der Verbreitung wird das nicht mehr
wahrgenommen. Nur zwei Beispiele:
1. Gewerkschaften: Ursprünglich wurden sie als Instrumente geschaffen, das
unverhältnismäßige Nehmen Einzelner einzudämmen (früher nannte man diese
Einzelnen Kapitalisten oder Industrielle, was aus psychologischen Gründen durch
den Begriff "Arbeit'geber' " ersetzt wurde). Inzwischen sind Gewerkschaften zu
Vermittlern unvernünftigen Nehmens verkommen. Die Umverteilung erfolgt nicht
von den Taschen der Kapitalisten in die Taschen der Produzenten, sondern
Erstere holen sich das von Anderen wieder (durch höhere Arbeitsbelastung,
Rationalisierung und Anderes). Im Ergebnis leisten die Gewerkschaften den
Arbeitern und Angestellten als Gesamtheit einen Bärendienst.
Aus der Praxis: Den Tarifverhandlungen und -abschlüssen im Öffentlichen Dienst
folgte unweigerlich das Schreiben des Verwaltungsleiters an die Leiter der
Institute und Abteilungen einer mir bekannten Einrichtung. Darin wurde
gefordert, die höheren Personalkosten durch Kürzung von Sachmitteln
auszugleichen, da ansonsten Personalkürzungen notwendig sind. Der (schlechte)
Witz daran: Die Angestellten sehen oft kaum was von der Einkommenserhöhung, da
der größte Teil aufgrund höherer Abgaben zum Verplempern nach Berlin abfließt.
2. "Marketing": Produkte dienen zunehmend nicht mehr dazu, Bedürfnisse zu
befriedigen, sondern Anderen Geld abzunehmen. Dazu werden Bedürfnisse erzeugt,
die ein normaler Mensch nie von selbst entwickeln würde. Das erfordert ein
immer aufwendigeres "Marketing", welches ganz tief in die psychologische
Trickkiste greift. Antibakterielle Müllbeutel und Reinigungsmittel,
Mobiltelefone mit eingebauter Kamera, zwangsweiser Umstieg von VHS auf DVD
(indem man die Kassetten einfach vom Markt nimmt), Computer, deren
Leistungsfähigkeit sich mit immer aufwendigeren Spielen gegenseitig
hochschaukelt (die aber für normale Anwendungen völlig überdimensioniert sind),
seidig glänzende Haarfabe, Nahrung, die bei möglichst viel Geschmack und
Volumen möglichst wenig Energie enthält, Katzenfutter, dessen Hersteller ihre
Rezepte offenbar von Starköchen zusammenstellen lassen - die Liste des
Schwachsinns wäre endlos weiterzuführen.
Das hat leider den unangenehmen Nebeneffekt, daß bei der Herstellung nutzlosen
Plunders und durch viel zu kurze Erneuerungsintervalle übermäßig Ressourcen
verbraucht werden und Umweltbelastungen auftreten.
Wenn Nehmen das Handeln bestimmt, bleibt die Frage nach dem unberücksichtigt,
von dem genommen wird. Habsucht ist - wie der Name sagt - eine Sucht. Das
Nehmen wird auch dann fortgesetzt, wenn die Schäden bereits offensichtlich
sind. Ich möchte hier nur auf die derzeitige Weltwirtschaftskrise (die aus
psychologischen Gründen "globale Konjunkturschwäche" genannt wird),
Klimawandel, Überfischung, Artensterben, Hungergebiete und Konfliktherde
verweisen.
Die Lösung ist denkbar einfach: Ein System, welches auf Geben beruht. Jeder
merkt selbst, wieviel er ohne eigenen Schaden geben kann. Selbst die Umwelt
wäre einbeziehbar: Nur, wenn ihr Zustand jederzeit stabil gehalten werden kann,
sind Langzeitschäden und nachfolgende Katastrophen auszuschließen - ein Punkt,
von dem wir weit entfernt sind.
Hinzu kommt der psychologische Effekt: Wenn mit Freude gegeben wird, freuen
sich Zwei über das Gegebene: der Gebende und der, dem gegeben wird (im
Gegensatz zum Nehmen, wo sich nur der Nehmende freut und der, von dem genommen
wird, ärgert). Trotz der positiven Erfahrung, die Jeder damit macht (zumindest
zu Weihnachten, bei Geburtstagen und ähnlichen Anlässen), wird das
unverständlicherweise nicht in alltägliches Handeln übernommen.
Die volle Tragweite der alten Weisheit "Geben ist seliger denn nehmen."
erschließt sich dem, der nur etwas darüber nachdenkt. Leider wird das Denken
mit Überlegungen ausgelastet, wie man mehr nehmen kann und gleichzeitig
verhindert, daß
einem selbst genommen wird. So bleibt die einfache und offensichtliche Lösung
für viele Probleme bei gleichzeitigem Gewinn von Freude und Zufriedenheit den
Meisten verborgen. Das ist nicht nur schade, sondern in seinen Folgen
verheerend.
31.01.2003
Torsten Reichelt
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