Kopftuch und Kreuz
Um die Wahrnehmung des "Kopftuchstreits" kam wohl in den letzten Wochen niemand
herum. Der Hintergrund war, daß die Bundesländer einzeln gesetzlich regeln
müssen, inwieweit das Tragen auffälliger religiöser Symbole in Schulen und
anderen öffentlichen Einrichtungen statthaft ist.
Ein völliger Aberwitz in einem Land, dessen Amtseidsformel immer noch den
Zusatz "So wahr mir Gott helfe." beinhaltet, wenn auch nicht mehr von Allen
gesprochen wird. Gemeint ist hier nicht irgendein Gott, sondern der Gott der
Römisch-Katholischen und Evangelischen Kirche. Ebender, in dessen Namen in
schöner christlich-abendländischer Tradition Truppen und Kanonen gesegnet
wurden und in dessen Namen auch heute Angehörige der Aggressionsarmee
Bundeswehr in Afghanistan von Militärgeistlichen seelischen Trost gespendet
bekommen.
Das Kopftuch ist ein von manchen Muslimen aufgrund einer Kann-Bestimmung des
Koran getragenes Kleidungsstück. Die Meinungen über Sinn und Bedeutung gingen
weit auseinander. Vorwiegend nichtislamische Männer und Frauen sehen darin ein
Symbol der Unterdrückung der Frau und ihrer minderwertigen Stellung in
moslemischen Kreisen. Muslime sehen es dagegen als Ausdruck weiblicher
Selbstbestimmung und Mittel, als Mensch und eben nicht nur als Sexobjekt
wahrgenommen zu werden. Terrorismusbeschwörer wollen darin den islamistischen
Fundamentalismus erkennen, der keinesfalls in Deutschland und besonders nicht
in Bildungseinrichtungen Fuß fassen soll.
Übrigens: Mein Fremdwörterbuch enthält weder den Begriff "Islamismus" noch
"islamistisch", sondern nur "Islam" und "islamisch". Allerdings ist "Ismus"
verzeichnet: "eine bloße Theorie, eine von vielen auf -ismus endenden
Theorien". Also hieße "Islamismus" wohl soviel wie die "Theorie vom Islam".
Das seit Monaten und Jahren in den Medien geschürte Verständnis ist aber ein
anderes: der Begriff "Islamismus" wird regelmäßig im Zusammenhang mit
Selbstmordattentaten und anderen terroristischen Aktionen verwendet, häufig in
enger Nachbarschaft des Begriffes "Fundamentalismus". All diese Begriffe werden
somit negativ vorbelastet - und außerdem ergeben sich nützliche sprachliche
Ähnlichkeiten mit "Sozialismus", "Kommunismus", "Bolschewismus" und
"Stalinismus".
Übrigens bestehen tatsächlich Parallelen: sowohl der Islam als auch der
Kommunismus zielen auf die Gestaltung einer gemeinnützigen Gesellschaft ab,
einer Gemeinschaftsordnung, was natürlich den Verteidigern des Kapitalismus und
deren Auftraggebern, der Bourgeoisie, den Angehörigen des Großkapitals, ein
Dorn im Auge sein muß. Über die ihnen ebenfalls gehörenden Medien werden so
Vorurteile gegen jene geschürt, welche ihre religiösen oder politischen
Ansichten konsequent vertreten und nicht an die egoistische und zerstörerische
kapitalistische Gesellschaftsordnung und ihr materielles Wertesystem verraten.
Auf den ersten Blick ist verwunderlich, daß das Symbol der christlichen
Religion, das Kreuz, nicht der gleichen Kritik unterliegt und seine
Zulässigkeit laut einigen Kommentatoren von Größe und Auffälligkeit abhängig
gemacht wird. Als ob auch das winzigste Silberkreuz nicht auffallen würde!
Zudem zielt ja auch das Christentum auf Gemeinnutz, am deutlichsten im
wichtigsten Gebot laut Jesus: "Liebe Deine Nächsten wie Dich selbst.".
Bei genauerer Betrachtung wird der Hintergrund klar: Das Kreuz ist das Symbol
des neuheidnischen Götzendienstes, den die institutionellen Kirchen aus der
christlichen Religion gemacht haben. Diese Kirchen dienen seit Jahrhunderten im
egoistischen Interesse ihrer Oberhäupter den jeweiligen egoistischen
Gesellschaftsordnungen, beginnend mit der Römischen Staatskirche in der
damaligen Sklavenhaltergesellschaft. Sie waren und sind willige und wichtige
Instrumente der Niederhaltung und im Extremfall Niederwerfung von Kräften,
welche aktiv eine gemeinnützige Gesellschaft herstellen wollten und wollen.
Im Gegensatz zum Kopftuch ist das Kreuz nicht Ausdruck bewußten Handelns,
sondern einer verschwommenen, passiven und damit heidnischen Religiosität. Die
Träger bilden sich tatsächlich ein, das Tragen des Kreuzes (im Sinn von
Schmuck) sei das Tragen des Kreuzes im biblischen Sinn und ihr passiver Glaube
würde sie erretten, weil Jesus für sie am Kreuz gestorben ist und sie damit
erlöst hat.
Das Kopftuch ist dagegen kein Symbol, sondern ein Kleidungsstück, welches eine
praktische Bedeutung hat. Die dieses Kopftuch tragenden Frauen sagen damit, daß
sie nicht für jeden zu haben sind. Und ich muß für mich sagen, daß genau dieser
Zweck erreicht wird und ich Frauen mit islamisch motiviertem Kopftuch als im
sexuellen Verständnis abweisend wahrnehme, umsomehr aber als konsequente
Menschen, denen ihre Religion wichtig ist und die sich der Tendenz der Betonung
des Sexuellen in der "christlich abendländischen Welt" bewußt entziehen.
Ich sehe nämlich auf der Straße auch das genaue Gegenteil: Mädchen und junge
Frauen tragen heute Hosen, zwischen denen und der Oberbekleidung schon fast
(und manchmal bereits) die Schamregion sichtbar wird.
Im anatomischen Sprachgebrauch heißt die Schamregion "Regio pubica". Schon vor
Jahren erkannte ich die Tendenz und nannte sie scherzhaft "Regio publica", also
öffentliche Region. Wie wahr das wird, habe ich damals nicht geahnt.
Ich bin bestimmt nicht prüde. Aber diese Zur-Schau-Stellung hat nichts mehr mit
Selbstbestimmung und Menschenwürde zu tun, sondern ist Prostitution
("prostituieren: 1 öffentlich bloßstellen 2 missbrauchen (für einen niedrigen
Zweck) 3 sich prostituieren: Prostitution betreiben; (um eines Vorteils willen)
etwas tun, das dem eigenen Ansehen schadet"). Um ehrlich zu sein, sind mir die
sich mit einem Kopftuch verhüllenden Mädchen und Frauen wesentlich lieber, als
die sich selbst durch ihre Kleidung zum Sexobjekt degradierenden. Letztere sind
Ausdruck des kapitalistischen, Alles zur Ware machenden Systems, ein lebendiger
Ausdruck der moralischen Krise des Kapitalismus als Bestandteil seiner
allgemeinen Krise.
Um diese Krise zu verschleiern, arbeiten Politiker und Medien, die Sprachrohre
des Großkapitals, daran, die sich nicht Prostituierenden zu diffamieren und
sogar den Widerstand gegen diese Prostitution gesetzlich zu unterbinden.
Ich warte auf den Tag, an dem ich das Kreuz oberhalb der sichtbaren
Schambehaarung baumeln sehe, und das auf offener Straße. Das würde den
Unterschied zwischen Kreuz und Kopftuch endgültig sichtbar machen. Wie auch die
Absichten derer kennzeichnen, die das Kreuz erlauben und das Kopftuch verbieten
wollen.
Als Christ und Kommunist befürworte ich das Tragen des Kopftuches durch alle
Frauen, die das aufgrund ihrer islamischen Religion oder aus einem anderen
Grund selbst wollen und /oder damit ihrer Herabwürdigung zum Sexobjekt begegnen
- und
zwar
überall und bei jeder Tätigkeit.
13.03.2004
Torsten ReicheltZur Hauptseite Zur Textübersicht