Wahrheit und Lüge
T: Wie kommt es, daß faustdicke Lügen geglaubt werden, während die Wahrheit
angezweifelt wird?
H: ???
T: Hältst Du mich für glaubwürdig?
H: Ich kenne Dich lange genug. Ja.
T: Glaubst Du, daß ich niemals lüge?
H: Lügen traue ich Dir nur in bedrohlichen Extremsituationen zu. Normalerweise
bist Du auch dann ehrlich, wenn Dir daraus Schaden entstehen kann. Aber ich
traue Dir zu, schamlos zu lügen, um einen Gegner in die Irre zu führen.
T: Selbst das eher nicht. Es genügt, ihm den Teil der Wahrheit zu sagen,
aufgrunddessen er sich selbst schaden wird.
H: Pfui, wie hinterhältig, angesichts der Offenheit unserer Feinde! Aber das
ist wieder mal wie Deine Witze: es dauert ewig, bis Du zur Sache kommst. Brings
mal auf den Punkt: Glaubwürdigkeit.
T: Genau. Ich will Dir zuerst zwei Geschichten erzählen, bei denen mir nicht
geglaubt wurde, obwohl ich ehrlich war:
Die erste erlebte ich im praktischen Jahr meiner Ausbildung. Als Assistenzarzt
nahm ich an einer Operation teil, bei der man nicht nur eine sterile
Vorderseite hat, wie bei üblichen Operationen, sondern rundum sterile Kleidung
trägt. Wenn ich mich richtig erinnere, war das eine Hüftgelenksendoprothese.
H: Sehr interessant. Nur nicht unbedingt für mich. Du schweifst wieder ab.
T: Wart's ab. Bei dieser Operation trug es sich zu, daß meine OP-Hose ins
Rutschen kam. Um die Operation nicht zu unterbrechen, gab es nur eine
Möglichkeit: Die zugegeben niedliche OP-Schwester mußte unter meine sterile
Kleidung kriechen, mir die Hose anziehen und zubinden.
Mir hat niemals jemand geglaubt, daß ich meine Hose aus Versehen nicht richtig
zugebunden hatte.
H: Und ich soll Dir das jetzt glauben?
T: Siehste: Bei der Geschichte zählt nicht die objektive Realität, sondern
Deine schmutzige Phantasie. Aber vielleicht ist Dein Urteilvermögen bei meiner
zweiten Geschichte besser.
H: Und bei der spielt wohl auch eine hübsche Krankenschwester die Hauptrolle?
T: Woher weißt Du das? Nun ja, ich hatte mir auf einem Motorradtreffen ein Bein
gebrochen. Im Krankenhaus wurde ich dann vergipst und legte mich zunächst mit
der Nachtschwester an, die mir mein Federmesser abnehmen wollte. Wir einigten
uns auf meine Meinung, es sei besser, daß ich es behalte. Die Schwester im
Frühdienst hatte mehr Pech, denn sie war der Ansicht, sie müsse mich wegen
meiner schweren Verletzung waschen. Durch göttliche Fügung kam mein Nachttisch
mit der Waschschüssel ins Kippen, und bevor die Schwester ihre nasse Kleidung
gewechselt hatte, war ich mit Waschen fertig.
Bis heute glaubt mir Keiner, daß das Kippen des Nachttisches göttliche Fügung
war.
H: Hmm, muß ich dazu meine Meinung äußern? Zumal ich weiß, was Du unter
"göttlicher Fügung" verstehst: Den Eintritt des Notwendigen aufgrund objektiver
Gesetzmäßigkeiten.
T: Ich will das so ausdrücken: Das Kippen des Nachttisches wurde nicht durch
meine aktive böswillige Handlung herbeigeführt. ABER, weshalb ich das erzähle:
meine faustdicke Lüge, ich hätte mir das Bein durch ungeschicktes Abstellen
meines Motorrades gebrochen, ging dagegen problemlos durch. Das Bein hatte mir
aber aus Versehen ein Freund bei einer Keilerei gebrochen. Du weißt ja, daß ich
erst nach verschiedenen Erfahrungen und durch sie zum Kommunisten wurde.
H: Deine Lüge wurde also geglaubt, während ehrliche Berichte bezweifelt wurden,
obwohl sie genauso möglich waren, wie Deine erfundenen Geschichte.
T: Genau. Meine Aussagen werden danach beurteilt, ob sie den Erfahrungen des
Zuhörers entsprechen oder seiner schmutzigen Phantasie, nicht, ob sie wahr und
objektiv möglich und wahrscheinlich sind.
H: Jetzt verstehe ich Dich. Mit Deinem Gleichnis willst Du sagen, daß
bürgerliche Lügen geglaubt und kommunistische Wahrheiten ignoriert werden. Weil
die bürgerlichen Lügen dem egoistischen und verbrecherischen Denken in der
kapitalistischen Klassengesellschaft plausibler erscheinen als die Wahrheiten
der Kommunisten.
T: Richtig. Aber das ist kein Gleichnis. Ich muß keine fiktiven Parallelen
ziehen, wenn ich Erkenntnisse mit eigenen Erfahrungen untermauern kann.
16.07.2004
Torsten Reichelt
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