Die Lebenserwartung der Rasselböcke
oder
Die hohe Wissenschaft politisch motivierten Kaffeesatzlesens
Am 10.09.2014 wurde ich auf eine Radiomeldung aufmerksam: Durch die Konterrevolution 1989/90 (gemäß Begriffsverordnung des vereinigten imperialistischen Propaganda-Neusprech „Wende“ oder „Mauerfall“) hätten die vereinnahmten Ostdeutschen nun eine 6 Jahre höhere Lebenserwartung. Wie „Wissenschaftler“ des Rostocker Max-Planck-Instituts für Demografie (Demagogie wäre passender) herausgefunden haben wollen.
Nun, solche Meldungen „verirren“ sich nicht mal eben in die Nachrichten eines privatkapitalistischen Senders wie r.sa (www.rsa-sachsen.de/), sondern sind üblicherweise zentral verordnet. Weshalb ich das kurz mit google.de überprüfte, mit sich in solchen Fällen immer bestätigendem Ergebnis: Ja, die gesamte B'R'D-Propagandamaschinerie krähte das zeitgleich herum. Ein weiteres Mal enttäuschenderweise auch das „Neue Deutschland“, der antikommunistisch verkommene billige Abklatsch des ehemaligen SED-Zentralorgans.[1]
Die Aussage
„Ohne Mauerfall würde ein 2011 in Ostdeutschland geborener Junge nur 70,9 Jahre alt werden, ein Mädchen 78,7 Jahre“, sagt Tobias Vogt vom Max-Planck-Institut. Unter jetzigen Bedingungen könnten Männer 77,1 Jahre alt werden, Frauen sogar 82,9. „Der positive Effekt der Wiedervereinigung auf die Lebenserwartung im Osten ist enorm“, sagt Vogt. Der in Jena aufgewachsene Wissenschaftler hält den Zugewinn an Lebenszeit für „eine der größten, aber oft übersehenen Errungenschaften der deutschen Einheit“. In der DDR war etwa seit 1970 die Lebenserwartung langsamer gestiegen als in anderen Industrieländern. „Durch die Angleichung der Lebensverhältnisse kam es nach 1990 relativ schnell zu einer Annäherung der Lebenserwartung“, stellte der 37-Jährige fest, der an der Rostocker Universität zu diesem Thema promovierte und zum 25. Jahrestag des Mauerfalls jetzt ein „Update der Zahlen“ vornahm.“ [2]
Völlig unseriös
Tja, schon die Grundlage der Berechnung der Lebenserwartung Neugeborener ist hochspekulativ. Die Grundlage ist eine Berechnung anhand bekannter vergangener Lebenserwartungen. Sie vernachlässigt die Faktoren, unter denen die Lebenserwartung sich entwickelte (z.B. bei 100jährigen zwei Weltkriege, bei 75-jährigen einen Weltkrieg). Auf einige Aspekte des spekulativen Charakters der Berechnung der Lebenserwartung ging Prof. Dr. Olaf Winkelhake ein, der z.B. nach den Prinzipien der Lebenserwartungsberechnung die des bayrischen Fabelwesens Wolpertinger (anderenorts als Rasselbock, sozusagen Wolpertinger Ost, bekannt) bestimmte. [3] Mathematisch exakt, aber wissenschaftlich natürlich absolut blödsinnig.
Um den Blödsinn deutlicher zu machen: Tobias Vogt (der Kaffeesatzleser des Max-Planck-Schänder-Instituts) sagt voraus, welche Lebenserwartung ein 2011 geborener BRD-Bewohner hätte und vergleicht das mit der ebenso „berechneten“ Lebenserwartung eines 2011 geborenen DDR-Bewohners. Der also mathematisch-fiktiv in einem Staat geboren wurde, der schon über 20 Jahre nicht mehr existiert. Also Mathematik, beruhend auf Fiktion und davon ausgehend, daß sich die Verhältnisse in der DDR kontinuierlich bis mindestens ins Jahr 2080 weiterentwickeln. Was ganz offensichtlich nicht der Fall ist, nur eben nicht für politische Kaffeesatzleser.
Ich habe mal die verfügbaren Daten früher berechneter prognostizierter Lebenserwartungen in Abhängigkeit vom Geburtsjahr in einem Diagramm zusammengestellt. [4][5]
Selbst für statistisch Unbeleckte wird hier sichtbar, wie spekulativ eine Aussage über 2011 (und darüber hinausgehend) Geborene in einem nicht mehr existierenden und selbst einem existierenden Staat sein muß. Schöne glatte Kurven, die niemals in der Vergangenheit so schön und glatt waren – außer heute für politisch motivierte mathematischen Kaffeesatzleser eines Instituts, welches zwecks Vorgaukelung wissenschaftlicher Seriosität für systematisch verblödete B'R'D-Insassen nach einem ernsthaften Wissenschaftler benannt wurde.
Vernachlässigte Tatsachen
Genaugenommen werden alle Tatsachen vernachlässigt, welche die zukünftige Lebenserwartung in der BRD beeinflussen, obwohl die schon die Spatzen (und sogar die BRD-Journaille) von den Dächern pfeifen:
- die deutlich verringerte Lebenserwartung Armer (10 Jahre!) [6] (Mal abgesehen vom weiteren Sprachdiktat des B'R'D-Neusprech, Arme als „armutsgefährdet“ zu bezeichnen, läßt die selbst von der Regimejournaille eingestandene zunehmende Armut eine deutlich eingeschränkte Lebenserwartung immer größerer Teile der B'R'D-Insassen erwarten.),
- bei gleichzeitig zunehmender Armut [7],
- die zunehmende gesundheitliche Mangelversorgung [8][9]
- der Pflegenotstand [10],
- die Kürzungen beim Pflegepersonal selbst in hochsensiblen Bereichen, bis serienweise Säuglinge an mangelnder Hygiene sterben [11] und
- die Zunahme psychischer Störungen mit hoher
Suizidrate [12].
Dabei ist vor Allem zu berücksichtigen, daß diese Maßnahmen des Sozialkahlschlags, der Kürzungen im Gesundheitswesen und der immer weiteren Einschränkung notwendiger Behandlungen in der gesamten BRD erst nach der Konterrevolution in der DDR und ihrer Annexion begannen. 1990 fiel das soziale Gegenüber weg und die Marionettenregierung des Finanzkapitals war nicht länger gezwungen, soziales Handeln vorzugaukeln (ein alter, inzwischen kaum noch gehörter verlogener Spitzname war „soziale Marktwirtschaft“; inzwischen ist der selbst für vollverblödete BRD-Insassen erkennbar surreal und aus den Medien verschwunden).
Fazit
Was die vereinigte BRD-Propaganda da verkündigte, ist also – wie fast immer - einmal mehr völlig unseriös und schwachsinnig. Von der ideologischen und personellen Nachfolgeinstitution des Goebbelsschen Propagandaministeriums „Bundeszentrale für politische Bildung“ ist nichts Anderes zu erwarten. Von Max-Planck-(Schändungs-)Instituten offenbar auch nicht.
Wissenschaftlichkeit? Scheiß auf Minimalansprüche an Wissenschaftlichkeit, wenn die Demagogie und die Kohle stimmt. Kaffesatzlesen tut's auch für eine „wissenschaftliche“ Karriere in der BRD. Tobias Vogt wird in diesem Regime seinen Weg machen und sicher bald mit einer Professur „geehrt“ (entehrt wäre für wirklich wissenschaftlich arbeitende Menschen zutreffender) und sicher Doktorvater für weitere karriereorientierte Kaffeesatzleser.
Das erinnert mich an Goethes Faust I, Hexenküche:
„Faust:
Mich dünkt, die Alte spricht im Fieber.
Mephistopheles:
Das ist noch lange nicht vorüber,
Ich kenn es wohl, so klingt das ganze Buch;
Ich habe manche Zeit damit verloren,
Denn ein vollkommner Widerspruch
Bleibt gleich geheimnisvoll für Kluge wie für Toren.
Mein Freund, die Kunst ist alt und neu.
Es war die Art zu allen Zeiten,
Durch Drei und Eins, und Eins und Drei
Irrtum statt Wahrheit zu verbreiten.
So schwätzt und lehrt man ungestört;
Wer will sich mit den Narrn befassen?
Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört,
Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.“ [13]
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[1] Neues Deutschland vom 10.09.2014: „Länger leben im Osten dank Mauerfall“. URL: http://www.neues-deutschland.de/artikel/945400.laenger-leben-im-osten-dank-mauerfall.html [Stand: 13.09.2014]
[2] ln online vom 10.09.2014: „Lebenserwartung im Osten durch Wiedervereinigung höher“. URL: http://www.ln-online.de/Lokales/Nordwestmecklenburg/Lebenserwartung-im-Osten-durch-Wiedervereinigung-hoeher [Stand: 13.09.2014]
[3] Winkelhake , O: „LEBENSERWARTUNG “. URL: http://winkelpedia.org/uploads//lebenserwartung.pdf [Stand: 15.09.2014]
[4] Statista, Das Statistik-Portal: „Lebenserwartung in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) bei der Geburt nach Geschlecht von 1952 bis 1989 (in Jahren)“. URL: http://de.statista.com/statistik/daten/studie/249309/umfrage/lebenserwartung-in-der-ddr/. [Stand: 13.09.2014]