Elend und Moral



Oft ist von der Beseitigung des Elends auf der Welt die Rede. Außer ein paar Sozialdarwinismusspinnern bekennt sich so ziemlich Jeder zur Beseitigung von Hunger, Armut und medizinischer Unterversorgung. Dabei ist meist von einer „moralischen Verpflichtung" die Rede.

Aber was ist die Moral? In bürgerlichen Wörterbüchern findet man "Sittenlehre".

Nun, wenn in einer Gesellschaft Elend besteht und zudem immer mit dem Reichtum Anderer verbunden ist, entspricht die Erzeugung von Elend und Reichtum also ganz offensichtlich der allgemeinen Sitte. Und ganz offensichtlich wird sie gelehrt, also auf Andere übertragen. Das ist die wahre Moral einer solchen Gesellschaft – im Unterschied zur geheuchelten.

Im Kapitalismus herrscht die bürgerliche Moral. Deren Grundzüge sind Egoismus, das heißt rücksichtslose Selbstsucht, und Individualismus, das heißt höhere Wertigkeit einzelner gegenüber gemeinschaftlichen Interessen. Die moralische Verpflichtung des Egoisten und Indivudualisten besteht darin, Anderen zum eigenen Nutzen Schaden zuzufügen. Das wird im Alltag deutlich sichtbar: Lohnarbeiter mobben sich gegenseitig, der Kapitalist beutet den Lohnarbeiter aus und versucht gleichzeitig, Seinesgleichen niederzukonkurrieren, die Bevölkerung der reichen Länder lebt auf Kosten der Bevölkerung armer Regionen usw..

Also ist die Beseitigung des Elends und Hungers auf der Welt offensichtlich keine allgemeine moralische Verpflichtung. Aber was ist sie dann? Warum behaupten selbst die Erzeuger des Elends in der Öffentlichkeit, seine Beseitigung anzustreben?

Ganz einfach: sie ist eine Notwendigkeit.

Das Leben auf Kosten Anderer erfolgt letztlich immer auf Kosten der Gemeinschaft. Langfristig schadet der Egoist nicht nur Anderen, sondern rückwirkend sich selbst. Und wenn Egoismus über lange Zeit zur allgemeinen Erscheinung wird, ist ein Zustand erreicht, in dem auf jeden Egoisten bereits schädliche Wirkungen früheren eigenen oder fremden Egoismus zurückfallen.

Nur zwei Beispiele:

  1. Der Kapitalismus ist am Profit orientiert und nicht an den Bedürfnissen der Menschen. Deshalb werden zwar zunächst Bedürfnisse befriedigt, aber darüberhinaus durch aufwendige Reklame auch neue Scheinbedürfnisse erzeugt. In einer Sendung über die internationale Fahrradausstellung IFMA hörte ich, daß es eben nicht mehr reicht, nur ein Fahrrad zu haben, sondern es müssen wenigstens 5 sein: eins für die Stadt, eins für schlechtere Straßen und Gelände, ein Rennrad für lange Strecken, ein Hometrainer und ein Spinninggerät für den Winter und schlechtes Wetter. Ganz zu schweigen von Tamagotchi, Furby und antibakteriellen Müllbeuteln. Bei der Produktion dieses unnützen Plunders werden aber menschliche Arbeit und materielle Ressourcen verbraucht sowie durch den Energieverbrauch Treibhausgase freigesetzt. Der Kapitalist versaut sich und seinen Nachkommen wegen kurzfristigen Profits Umwelt und Zukunft.

  2. Die Kapitalisten der BRD lassen sich durch ihre politischen Lakaien zunehmend von Steuern befreien und im Gegenzug Arbeiter aus unteren sozialen Schichten immer stärker belasten, sei es durch Zuzahlungen im Gesundheitswesen, durch unbezahlte Mehrarbeit oder gleich durch Zwangsarbeit bei den „1-€-Jobs". Das erhöht kurzfristig die Profite. Aber 1-€-Jobber sind auch nur 1-€-Konsumenten. Langfristig ruinieren sich die Kapitalisten den Konsum und damit selbst und gegenseitig ihre Unternehmen.
Das heißt: egoistisches Verhalten verschlechtert zwangsläufig die zukünftigen Lebensbedingungen Aller. Nur gemeinnütziges Verhalten sichert bestmögliche Lebensbedingungen und damit bestmögliche Funktionsfähigkeit des Organismus. Das Streben danach ist aber ein grundlegendes Kennzeichen belebter Materie, also eine Notwendigkeit, und hat nichts mit irgendeiner gesellschaftlichen Moral zu tun.

Mit einer Ausnahme: die kommunistische Weltanschauung ist eine wissenschaftliche und die kommunistische Gesellschaft und ihre Sitten werden an erkannten Notwendigkeiten ausgerichtet. Mehr noch: die Notwendigkeit bestimmt auch schon heute das Handeln von Kommunisten.

Die Beseitigung von Hunger und Elend durch Beseitigung des Egoismus entspricht also (und nur) kommunistischer Moral, weil sie notwendig ist – und nicht, weil sie sich ein verträumter Gutmensch so ausgedacht hat.

26.06.2005

Torsten Reichelt

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