Crämer gegen Darwin


felixed: Weißt Du schon, daß das Gerücht vom naturgemäß egoistischen Menschen widerlegt ist?

ein Genosse: Klar. Du selbst hast doch da schon Einiges geschrieben – was allerdings auch nicht gerade neue Erkenntnisse waren.

felixed: Selbstverständlich nicht. Ich habe die Frage falsch gestellt: Weißt Du schon, daß das Gerücht vom naturgemäß egoistischen Menschen durch die neuzeitliche bürgerliche bundesdeutsche soziologische Wissenschaft widerlegt ist?

ein Genosse: Du willst mich doch verscheißern. Schon die Wortkombination "neuzeitliche bürgerliche deutsche soziologische Wissenschaft" enthält doch gleich mehrere Widersprüche. Und ich kenne Dich gut genug, daß Dir das auch bewußt ist.

felixed: Dich verscheißern? Nee, diesmal nicht. Natürlich weiß ich, daß bürgerliche Soziologen nicht nur wissenschaftlich arbeiten, und gerade in grundlegenden Fragen gleich gar nicht. Aber Du wirst doch nicht leugnen, daß sie AUCH mit wissenschaftlichen Methoden arbeiten.

ein Genosse: Sicher. Ihre Zunft ist ja auch dafür zuständig, herauszubekommen, wie man ein längst überlebtes System noch etwas länger am Leben erhält.

felixed: Das auch. Wovon ich rede, enthält auch Beides: Sowohl saubere Wissenschaft als auch übelste Demagogie. Zunächst wird nämlich in einem Feldversuch an US-Amerikanern nachgewiesen, daß die gerade mal 50% ihrer Entscheidungen egoistisch treffen.

ein Genosse: Wieso US-Amerikaner? Du hast doch vorhin von BRD-Wissenschaft gesprochen?

felixed: Weil die Studie von Thomas Crämer an der Uni Tübingen durchgeführt wurde. Und hier liegt der erste Grund, warum ich von einer sauberen Studie spreche: Untersucht wurden gerade US-Amerikaner, weil in den USA Individualismus und Eigennutzmaximierung, wie das der Autor nennt, allgemein als Werte gelten.

ein Genosse: Und welche weiteren Gründe hast Du, von einer sauberen Studie zu sprechen?

felixed: Eine ganze Menge: Die Auswahl der untersuchten Personen, ihre Irreführung bezüglich der wirklichen Fragestellung und die Überprüfung des Erfolgs der Irreführung, die Zusammenstellung der Fragen an die Untersuchten durch einen Computer nach einem Zufallssystem, die Untersuchung ganz verschiedener Entscheidungsbereiche der Untersuchten und noch Einiges mehr. Ich hatte ja schon öfter mit soziologischen und psychologischen Studien zu tun und diese gehört zu den im Ansatz saubersten.

ein Genosse: Du hast von Entscheidungsbereichen gesprochen. Welche denn?

felixed: Von Bereichen, welche das soziale Umfeld bezüglich Wohnlage, z.B. Stadt oder Land, sowie Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen umfassen, über UN-Kriegseinsätze, die natürlich nicht so genannt werden und Ökologie bis hin zu einfachen ökonomischen Entscheidungen, für ein Produkt mehr zu bezahlen, weil ein Teil des Preises zu wohltätigen Zwecken verwendet wird. Hier ist wohl auch der eheste Anlaß zu Kritik, da zur US-Kultur ganz wesentlich auch die heuchlerische Wohltätigkeit gehört.

ein Genosse: Hmm, klingt ganz interessant. Und was kam 'raus? Du sagtest, 50% der Entscheidungen fielen nicht egoistisch aus.

felixed: Meist sogar etwas mehr. Darüber war sogar ich erstaunt. Bei 200 Untersuchten ist das auch statistisch so sicher, daß die Verfechter des naturgemäß egoistischen Menschen endgültig einpacken können. Wird wohl aber noch 'ne Weile dauern, bis sich das 'rumgesprochen hat. Die Arbeit ist ja auch schon von 2001 und ich wurde erst durch einen Genossen auf sie aufmerksam.

ein Genosse: Naja, aber immerhin. So weit, so gut. Aber Du sagtest auch was von übelster Demagogie?

felixed: Klar. Bisher haben wir ja nur darüber gesprochen, wie die Daten gewonnen wurden. Nun kommt aber der wichtigere Teil: ihre Interpretation und die Schlußfolgerungen. Ein Feuerwerk bürgerlicher Pseudowissenschaft, sag ich Dir. Das geht schon damit los, wie der Autor das Verhalten bezeichnet, welches nicht egoistisch ist: altruistisch. Was Anderes kennt der entweder nicht oder gibt's zumindest nicht zu. Sowas wie Gemeinnutz scheint ihm völlig fremd zu sein. Immerhin gelingt ihm aber innerhalb seiner Untersuchung sogar noch, für auf den ersten Blick nichtegoistisches Verhalten auch einen Gruppenegoismus auszuschließen.

ein Genosse: Wie geht denn das? Nimmt man als diese Gruppe die ganze Menschheit, ist ja jedes Verhalten als Gruppenegoismus zu erklären.

felixed: Sehr richtig. Eben deshalb untersuchte er auch das Verhalten gegenüber anderen Arten, wobei ja zu erwarten wäre, daß der Mensch sich vor Allem denen gegenüber eher egoistisch verhält, die ihm genetisch oder territorial ferner stehen oder Nahrungskonkurrenten sind, also kaum als eigene Gruppe wahrgenommen werden. Na gut, er wählte nicht grade Tuberkelbakterien, Läuse oder Bandwürmer als Beispiele, deren Schutz und Förderung den Lebensinteressen des Menschen unmittelbar schaden würde, aber zum Beispiel Schimpansen und Mäuse. Allerdings war den beiden Arten gegenüber nichtegoistisches Verhalten zwar etwa gleich häufig, doch deutlich seltener als gegenüber Menschen.

ein Genosse: Das war aber noch ein Pluspunkt FÜR die Arbeit, keine Demagogie.

felixed: Naja, der wirkliche Knaller kommt ja erst: Crämer schmeißt erst die Darwinsche Evolutionstheorie über Bord, um dann anhand eines willkürlichen eigenen Evolutionsmodells mathematisch angeblich zu beweisen, daß über 50% aller Eigenschaften jedes Organismus unnütz sind.

ein Genosse: Das verstehe ich jetzt nicht.

felixed: Kannste anhand meiner spärlichen Angaben auch nicht. Also: was beinhaltet die Darwinsche Evolutionstheorie?

ein Genosse: Na, die Entwicklung von Arten durch zufällige Mutation und umweltbedingte Selektion.

felixed: Und wozu führt sie bei Lebewesen?

ein Genosse: Zur Zunahme von Kompliziertheit, Differenziertheit und Leistungsfähigkeit. Bio, 9. oder 10. Klasse, glaube ich. In der DDR zumindest.

felixed: Du bist ja nun durch ein paarhundert Millionen Jahre Evolution entstanden. Mal 'ne einfache Frage: Hast Du an Dir schon mal unnütze Körperteile oder Funktionen festgestellt?

ein Genosse: Naja, mein Steißbein. Das ist nur dazu da, wehzutun, wenn man drauffällt.

felixed: Ja klar. Natürlich haben wir rudimentäre Organe und Funktionen, die wir nicht mehr brauchen. Aber unsere Vorfahren brauchten sie. Aber hast Du irgendwelche Organe oder Funktionen an Dir bewerkt, die weder Du noch Deine Vorfahren je brauchten?

ein Genosse: Nicht daß ich wüßte. Warum sollte ich sowas haben?

felixed: Weil Herr Crämer mathematisch angeblich nachgewiesen hat, daß das bei jedem Lebewesen über 50% sein müssen. Genauer gesagt wies er nach, daß nur 50% aller bei Lebewesen entwickelten Strukturen, Moleküle und Funktionen irgendwann einmal eine nützliche Funktion haben.

ein Genosse: Mathematisch nachgewiesen? Dann steckt sicher irgendwo ein Rechenfehler.

felixed: Nein. Diese mathematische Herleitung sieht auch wieder sauber aus, soweit ich das beurteilen kann. Trotzdem ist eine Tatsache, daß ich ganz offensichtlich noch nicht einmal die zusätzlichen Arme und Hände habe, die mir bei vielen Tätigkeiten nützlich wären, und auch keine kleinen Tentakeln in der Nase, die mir gestatten, von meiner Umgebung unbemerkt in Gesellschaft zu popeln, geschweige denn unnütze Körperteile.

ein Genosse: Nun mach's nicht so spannend. Die Leser warten doch schon, daß das Stück hier endlich zu Ende ist. Also, was ist der Trick bei der Begründung, daß die Mehrheit aller unserer Eigenschaften unnütz ist, und was hat das mit Altruismus oder besser nichtegoistischem Verhalten zu tun?

felixed: Beides ist äußerst banal. Der Trick besteht darin, daß nur ein Teil der evolutionären Prozesse als ihr gesamter Inhalt verkauft wird. Crämer reduziert die Evolution auf die Zunahme der "Komplexität" von Lebewesen und klammert die Leistungsfähigkeit innerhalb bestimmter Bedingungen völlig aus. Der Satz, in dem er diesen Trick versteckt, ist – wie auch seine strategische Plazierung - bemerkenswert. Er schreibt: "Auf die Frage, welche Eigenschaft sich im Laufe der Evolution gerichtet verändert habe, würden die meisten Wissenschaftler intuitiv die organismische 'Komplexität' nennen."

ein Genosse: Soso, Wissenschaftler antworten also intuitiv, nicht etwa anhand ihrer Erkenntnisse.

felixed: Und Wissenschaftlern ist laut Crämers Einschätzung unbekannt, daß eine Bläschenlunge mehr leistet als eine Sacklunge.

ein Genosse: Aber was hat das mit dem Egoismus und seiner Widerlegung als dominierendes Verhalten zu tun?

felixed: Ganz einfach. Schon lange ist bekannt, daß auch das Verhalten eine Evolution zeigt, welche ebenso wie die körperliche zur Zunahme an Kompliziertheit, Differenziertheit und Leistungsfähigkeit führt. Crämer selbst weist auf Parallelen der verschiedenen Evolutionsbereiche hin. Indem er angeblich nachweist, daß nur die Hälfte aller evolutionär entwickelten Eigenschaften irgendwann einmal nützlich ist, verschwindet die Notwendigkeit, die 50% Häufigkeit nichtegoistischen Verhaltens und dessen Nützlichkeit zu erklären. Noch verkrachter ist aber Crämers Schlußfolgerung bezüglich des Wertes seiner Arbeit: "Die drei Hauptideologien des 20. Jahrhunderts beruhten auf der Vorstellung vom Überleben des oder der Stärkeren: Konkurrenzkampf, Rassenkampf und Klassenkampf. Gemeinsam war diesen Ideologien der Glaube an eine zielgerichteten Entwicklung der Geschichte." Und dann: "An die Stelle des Leitbildes vom Kampf um knappe Ressourcen tritt das Bild der Kooperation in einer Welt natürlicher Fülle. Es findet keine Optimierung statt, obwohl es auch hier eine Entwicklungsrichtung gibt. Die Dinge werden tendenziell immer verschlungener obgleich die Verschlungenheit [...] selbst keinen tieferen Sinn besitzt." Bei so viel Verschlungenheit war mir dann auch danach, Jemanden zu verschlingen oder Verschlungenes wieder auszukotzen.

ein Genosse: Kann ich verstehen.

felixed: Wenn Du denkst, mit diesen ganzen Verschlingungen sei der Höhe- oder eher Tiefpunkt der Arbeit erreicht, kennst Du die beiden Schlußsätze der Arbeit noch nicht: "Wo wir uns hinentwickeln wollen, können wir nicht bestimmen, aber wir können wählen. Und mit dem Zufall dürfen wir dabei immer rechnen." Was wohl soviel heißen soll wie: "Was wir in der Gaststätte essen wollen, können wir nicht bestimmen, aber wir können wählen. Und uns dann doch überraschen lassen, was wir letztlich zu fressen kriegen." Irgendwie kommen mir Zweifel, ob Crämer jemals versucht hat, seine alltäglichen speziellen Erfahrungen aus dem richtigen Leben, wie z.B. in einer Gaststätte, mit seinem theoretischen Gedankengewusel über das Leben im Allgemeinen in Verbindung zu bringen.

ein Genosse: Also ist das unter dem Strich eine schlechte Arbeit?

felixed: Nein. Eine hervorragende Arbeit mit sauberen empirischen Daten und lehrbuchreifen Verrenkungen, die offensichtlich notwendigen Schlußfolgerungen daraus völlig auf den Kopf zu stellen. Wenn nötig, wird dabei auch schonmal eine Nebensächlichkeit wie die Evolutionstheorie über den Haufen geworfen. Im Vergleich zu den sonstigen Belanglosigkeiten moderner bürgerlicher sogenannter Wissenschaft geradezu eine Offenbarung.

ein Genosse: Mag ja sein, daß uns diese Doktorarbeit heute etwas gibt. Aber wie soll das für die und nach der Revolution gut sein?

felixed: Na für Lehrbücher. In denen z.B. später anhand dieser Arbeit belegt werden kann, daß sich Menschen selbst im übelsten Kapitalismus der imperialistischen USA nicht überwiegend egoistisch verhielten. Aber daß andererseits der Egoismus bei Einigen dazu führt, in diesem verbrecherischen System ihre Karriere zu fördern, indem sie eigene sauber gewonnene Daten auf abenteuerliche Weise umlügen.

ein Genosse: Wie Crämer, heute vermutlich dank dieser Arbeit und seiner ideologischen Arschkriecherei Herr Dr. Crämer.

felixed: Ja, vermutlich.
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Das Umdenken