Kritik der Kritik: Wissenschaftlicher Atheismus und Religion

Inhalt
1 Religionsfreiheit und atheistische Erziehung in der DDR
2 Kirche und Religion
3 Entstehung der Religion
4 Die Vordenker
5 Die jüdische / christliche / islamische Religion
6 Der falsche Feind
7 Determinismus
8 Die Praxis
9 Lehren
10 Noch einer von mir: Gott ist Atheist


1 Religionsfreiheit und atheistische Erziehung in der DDR   [zum Inhaltsverzeichnis]

In der DDR (wie allen sozialistischen Ländern) war Religionsfreiheit garantiert, solange durch ihre Ausübung die staatliche Ordnung und die sozialistische Gesellschaftsordnung nicht gefährdet oder geschädigt wurden. Das mag sehr restriktiv klingen, entspricht aber z.B. den Regelungen des Grundgesetzes der BRD (dessen "Freiheitlichkeit" ihr wahres Gesicht im gegenwärtigen "Kopftuchstreit" zeigt, mit dem ich mich wohl in einem anderen Aufsatz befassen werde).

Nun ja, die (im Wesentlichen christliche, andere waren bedeutungslos) Religion wurde nicht gerade gefördert. Im Gegenteil: als atheistisch erzogener DDR-Bürger ohne familiären religiösen Hintergrund muß ich schreiben, daß diese Erziehung in mir eine zurückhaltende bis ablehnende Einstellung zur Religion und ihren Anhängern erzeugte. Sie erschien mir als eine so wirklichkeitsferne, unlogische Weltanschauung, daß ich gegenüber bekennenden Christen lange skeptisch - und wohl auch überheblich - war. Ich dachte, wer diesen Mist glaubt, muß wohl auf einer längst überholten Stufe der Erkenntnis stehen- und damit zurückgeblieben sein. Ein Missionsversuch durch "Zeugen Jehovas" setzte dem Ganzen schon im Kindesalter die Krone auf: diese Leute lebten eindeutig in einer eigenen Welt, die mit der wirklichen kaum etwas zu tun hatte, soviel war mir schon damals mit vielleicht 8 Jahren klar.

So war ich bestens gerüstet, mit erdenklich negativen Vorurteilen an jede Form von Religion heranzugehen. Genau deshalb bin ich in der Lage, nun die Fehler der Atheisten bei der Auseinandersetzung mit und scheinbaren Entkräftung der "Religion" zu erkennen. Deshalb bekenne ich mich auch zur (monotheistischen) Religion, nicht auf der Grundlage des Glaubens, sondern der Erkenntnis.

Ich möchte mich hier mit dem "Studienmaterial zum Spezialkurs, Grundlagen des wissenschaftlichen Atheismus" (Manuskript, 1986, Autorenkollektiv unter Leitung von Prof. Dr. Olof Klohr) auseinandersetzen. Ich werde zeigen, daß die Autoren nicht die Religion, sondern ihre mißbräuchliche Verwendung in der Klassengesellschaft kritisieren (wie das Marx und Lenin schon vorher taten). Und ich werde zeigen, daß die Religionskritik seitens des wissenschaftlichen Atheismus schon im Ansatz einen grundlegenden Fehler enthält, der die nachfolgende und in sich schlüssige Argumentation gegenstandslos macht.

Ich tue das nicht, um der Religion zu neuem Glanze zu verhelfen oder gar die Vordenker des dialektischen Materialismus in Frage zu stellen. Im Gegenteil: Ich kann deren Erkenntnisse nur untermauern. Ich möchte sie aber ergänzen und zeigen, daß sie bei konsequenter Weiterführung zu einem Weltbild führen, welches auch der (christlichen) Religion zugrunde liegt, nämlich dem Determinismus.

2 Kirche und Religion   [zum Inhaltsverzeichnis]

Welche Weltanschauung vertreten die institutionellen Kirchen? Diese Frage scheint banal und einfach zu beantworten: Natürlich eine religiöse und im philosophischen Sinn idealistische. Grundlage der kirchlichen Lehren ist die christliche Religion.

Aber ist diese Antwort richtig?

Schon der erste Teil der Antwort ist nur teilweise richtig. Religion ist "Glaube an eine übersinnliche, nicht menschliche Leitgestalt; Glaubensbekenntnis" (Horst Leisering: Neues Großes Wörterbuch - Fremdwörter, Compact Verlag München, 1999). Somit sind die kirchlichen Lehren religiös. Idealismus ist die "..; philosophische Anschauung, nach der nur das Geistige wirklich existiert und das Materielle nur dessen Erscheinungsform ist" (ebenda). Genaugenommen trifft Letzteres auf die kirchlichen Lehren nicht zu, die das Weltliche, das Materielle nicht leugnen, sondern als reales Produkt des Geistigen (Schöpfung Gottes) verstehen.

Richtiger müßte hier zwischen den Begriffen objektiver Idealismus (Materie existiert als Produkt eines [z.B. göttlichen] Bewußtseins) und subjektiver Idealismus (nur das Bewußtsein existiert und beinhaltet den "Eindruck" von Materie, das heißt, die objektive Realität wird nicht widergespiegelt, sondern vom Bewußtsein hervorgebracht). Die kirchlichen Lehren sind dem objektiven Idealismus zuzuordnen.

Der zweite Teil der Antwort (Grundlage der kirchlichen Lehren ist die christliche Religion.) ist falsch. Die christliche Religion ist in einer Auswahl Heiliger Schriften, der Bibel ("Heilige Schrift") wiedergegeben. Die kirchlichen Lehren sind dagegen Interpretationen dieser Bibel, welche z.B. im Katechismus der Katholischen Kirche zusammengestellt sind. Diese Interpretationen erfolgten vor einem bestimmten gesellschaftlichen Hintergrund mit bestimmten Absichten, nämlich der Rechtfertigung und Stützung der herrschenden Klasse der jeweiligen Gesellschaftsordnung sowie der Bereicherung der kirchlichen Oberhäupter.

Diese Absichten lagen aber den Vordenkern der Religion, deren Erkenntnisse in den ursprünglichen Heiligen Schriften festehalten sind, fern. Im Gegenteil: Ziel war die gesellschaftliche Veränderung, genauer gesagt der Übergang der egoistisch geprägten Klassengesellschaft zu einer gemeinnützigen klassenlosen. Besonders deutlich wird das in den Evangelien und der Apostelgeschichte des Neuen Testaments. Ich spare mir hier die Erläuterung, welche ich andernorts ausführlich vorgenommen habe (insbesondere im Heft "Prophezeiungen verändern die Welt").

Diese ursprünglichen Ziele wurden und werden von den Kirchen und ihren Repräsentanten verraten, und zwar spätestens seit der Entstehung der Römischen Staatskirche im 4. Jahrhundert. Die christliche Religion und die kirchlichen Lehren sind nicht nur unterschiedlich, sondern in vielen grundlegenden Aussagen gegensätzlich. Deshalb mußte auch eine eigene "Wissenschaft" erfunden werden, die Theologie, um die Widersprüche durch komplizierte und nebulöse Aussagen zu verschleiern.

Deshalb sollte man von einer kirchlichen Religion (der jeweiligen Kirche) sprechen und darf sie keinesfalls mit der christlichen (in der Heiligen Schrift und insbesondere den Evangelien festgehalten) gleichsetzen.

Daß sich die Kirchen auf die christliche Religion berufen, sollte nicht dazu verleiten, diesen Betrug zu übernehmen und zur Grundlage der Kritik der Religion und insbesondere der christlichen zu machen. Zumal "die Religion" nicht verallgemeinernd Gegenstand einer Betrachtung sein kann, wenn eine bestimmte gemeint ist. Ebenso falsch wäre z.B. eine Kritik "des Materialismus" anstatt des dialektischen.

3 Entstehung der Religion   [zum Inhaltsverzeichnis]

"Nun ist alle Religion nichts andres als die phantastische Widerspiegelung, in den Köpfen der Menschen, derjenigen äußern Mächte, die ihr alltägliches Dasein beherrschen, eine Widerspiegelung, in der die irdischen Mächte die Form von übernatürlichen annehmen." (Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaften (Anti-Dühring), in MEW Bd. 20, Berlin 1962, S. 294).

Besser kann man's wohl nicht ausdrücken. Einerseits beinhaltet das die Aussage, daß der Ausgangspunkt die Beobachtung der Wirklichkeit, des alltäglichen Daseins, war. Weiterhin, daß dieses von beherrschenden Mächten bestimmt wird und das von den Religionsstiftern erkannt wurde. Und letztlich, daß diese Mächte in einer übernatürlichen Sphäre (jenseits des bisher Wahrnehmbaren und Bekannten) angesiedelt wurden.

Nebenbei: Marx, Engels und Lenin erkennen selbst solche beherrschenden und vom Menschen unbeeinflußbaren Mächte, nämlich objektive Gesetzmäßigkeiten, an. Auch sie können nur deren Wirkung beschreiben, nicht aber ihr Wesen.

Bei der Entstehung von ("heidnischen") Religionen spielten besonders beeindruckende Naturereignisse (Blitzeinschläge, Erdbeben, Vulkanausbrüche, Dürren, Überschwemmungen, Stürme und Anderes) eine wichtige Rolle, wo (im räumlichen Sinn) Götter und ihr Wirken angesiedelt wurden. Solche Ereignisse lagen nicht nur jenseits jeder menschlichen Einflußnahme, sondern auch jenseits der üblichen Umweltbedingungen und bekannten Phänomene. Wenig erstaunlich ist, daß Menschen dann versuchten, die Gunst dieser Mächte zu erlangen, was sich in Kulten, Riten und Opfern widerspiegelt.

Dennoch war die objektive Realität immer Ausgangspunkt wie Gegenstand und Ziel auch dieser Religionen.

4 Die Vordenker   [zum Inhaltsverzeichnis]

Sowenig der Marxismus-Leninismus als Weltanschauung aus dem Proletariat heraus entstand, sind die Religionen Produkte einer ethnischen Gruppe oder gesellschaftlichen Klasse. Sie wurden von Einzelnen oder Wenigen entwickelt, welche sich besonders intensiv damit beschäftigten, die Regeln der objektiven Realität zu erkennen.

Entsprechend dem Erkenntnisstand wurden auch bestimmte Bereiche des Lebens (Wissenschaft, Handwerk, Krieg, Kunst...) in heidnischen Religionen einzelnen Göttern zugeordnet. Denen wurden materielle Entsprechungen zugewiesen, seien das nun natürliche (z.B. heilige Quellen) oder menschengemachte (z.B. Götzenbilder, Fabelwesen).

Eine Frage kann wohl nie beantwortet werden: Entsprachen diese Abbilder den Erkenntnissen der Vordenker oder paßten diese Vordenker ihre Erkenntnisse dem Wissensstand ihrer Zeit an? Ich neige zur zweiten Aussage.

5 Die jüdische / christliche / islamische Religion   [zum Inhaltsverzeichnis]

Eine neue Qualität der Erkenntnis stellen die abrahamischen Religionen dar. "Beherrschende Mächte" werden auf einen unsichtbaren, unveränderlichen, ewigen, allgegenwärtigen, allmächtigen, allwissenden, willkürlichen und schöpferischen Gott reduziert - was die richtige Erkenntnis objektiver Gesetzmäßigkeiten nahelegt. Die Propheten / "Gesalbten" wurden selbst zu Gesetzgebern, zu Übermittlern der Erkenntnis. Besonders deutlich wird das in der "Bergpredigt" Jesu, aber auch schon in den Geboten des Alten Testaments.

Obwohl mir hier Quellen fehlen, ist mir bekannt, daß schon die jüdische Religion seitens heidnischer Nachbarn als atheistisch verurteilt wurde.

Insbesondere Jesus hob die heidnischen Kulte auf, z.B. den Totenkult: "Aber Jesus sprach zu ihm: Folge du mir, und laß die Toten ihre Toten begraben." (Matthäus 8, 22) oder "Gott aber ist nicht der Toten, sondern der Lebendigen Gott. Darum irret ihr sehr." (Marcus 12,27) und die Opferhandlungen:"Und Jesus ging zum Tempel Gottes hinein, und trieb heraus alle Verkäufer und Käufer im Tempel, und stieß um der Wechsler Tische und die Stühle der Taubenkrämer;..." (Matthäus 12,12). (Zum Verständnis muß man wissen, daß die Geldwechsler die verschiedenen Währungen in "reines Tempelgeld" umtauschten. Nur damit konnten dann Opfertiere, wie die Tauben, bezahlt werden.).

Schon im Alten Testament werden heidnische Religionen, Götzendienst wie auch Rückfälle in diese immer wieder gebrandmarkt, am Deutlichsten in den "Zehn Geboten": "3. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. 4. Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, noch des, das im Wasser unter der Erde ist." (2 Mose 20, 3;4),

aber auch

"22Ich aber habe euren Vätern an dem Tage, als ich sie aus Ägyptenland führte, nichts gesagt noch geboten von Brandopfern und Schlachtopfern; 23sondern dies habe ich ihnen geboten: Gehorcht meinem Wort, so will ich euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein; wandelt ganz auf dem Wege, den ich euch gebiete, auf daß es euch wohlgehe. 24Aber sie wollten nicht hören noch ihre Ohren mir zukehren, sondern wandelten nach ihrem eignen Rat und nach ihrem verstockten und bösen Herzen und kehrten mir den Rücken zu und nicht das Angesicht." (Jeremia 7,22ff.).

Die Lehren Jesu sind handlungsorientiert. Sie schöpfen aus der jüdischen Religion (deren Schriften das Alte Testament bilden). Gleichzeitig sind sie Grundlage des Islam, der eine Weiterentwicklung der christlichen Religion darstellt. Christentum und Islam (wie schon vorher das Judentum) brachten gemeinnützige Gesellschaftsordnungen im kleinen Maßstab hervor: Kibbuze, urchristliche Gemeinden und Kalifate.

6 Der falsche Feind   [zum Inhaltsverzeichnis]

Leider gelang es den herrschenden Klassen bisher immer wieder, sich die Religionen dienstbar zu machen und in ihrem Interesse zu verfälschen. Die Ursache liegt nicht in einer verkehrten Widerspiegelung der objektiven Realität und damit verkehrten Welt, sondern in mangelnder Absicherung gegen Verfremdung und Mißbrauch. Das verwundert umso mehr, als Jesu Gleichnisse nun wirklich idiotensicher und in der Bibel zu großen Teilen richtig überliefert sind.

Hier findet sich der grundlegende Fehler des "wissenschaftlichen Atheismus" bei seiner Auseinandersetzung mit der (insbesondere christlichen) Religion: Die Erscheinungen ihres Mißbrauchs werden als die Religion selbst betrachtet.

Übrigens ergeht es dem Marxismus-Leninismus nicht besser. Entgegen anderslautender Annahmen trat der Sozialismus nicht seinen unaufhaltsamen Siegeszug mit dem Endergebnis Kommunismus an, sondern wurde weltweit zurückgeworfen. Das liegt nicht daran, daß die Theorie falsch ist, sondern daß sie in freie, meist egoistisch motivierte, Interpretationen und Verfälschungen verwandelt wurde.

Pseudomarxistische Machwerke wie "Geschichte der SED - Abriß" oder auch die derzeitigen reformistischen Programme von DKP, KPD und MLPD brauchen den Vergleich mit dem Katechismus der Katholischen Kirche in puncto Verfremdung der ursprünglichen Ideen keineswegs zu scheuen.

7 Determinismus   [zum Inhaltsverzeichnis]

Die "beherrschenden Mächte" wurden von dialektischem Materialismus wie jüdischer / christlicher / islamischer Religion richtig erkannt: objektive, vom Menschen, Materie und Bewußtsein unabhängige Gesetzmäßigkeiten.

Materie, Bewußtsein und ihre Wechselwirkung unterliegen unbeeinflußbaren Gesetzmäßigkeiten. Jemanden zu kritisieren, weil er diese "Gott", "Allah" oder "JHWH" / "Jehova" nennt, entbehrt jeder Grundlage. Die Vordenker des dialektischen Materialismus kennen "Gott" auch; sie bezeichnen ihn als ebendiese "objektiven Gesetzmäßigkeiten".

Schon der Begriff des "dialektischen" Materialismus ist halbherzig. Einerseits soll daran festgehalten werden, daß die Materie das Bewußtsein bestimmt. Andererseits ist nicht zu leugnen, daß das Bewußtsein auf die Materie zurückwirkt. Schließlich entsteht ein Tisch mit Marx' "Kapital" darauf nicht aufgrund materieller, sondern durch Bewußtseinsprozesse.

Der Begriff Dialektik ("Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Gesellschaft und des Denkens. ..." (Kleines politisches Wörterbuch, Kollektiv von Mitarbeitern des Dietz-Verlags, 1973, Dietz-Verlag Berlin)) drückt selbst aus, daß nicht die Materie im Vordergrund steht, sondern die Gesetzmäßigkeiten ihrer Entstehung, Eigenschaften und Entwicklung.

Dann sollte man aber konsequent sein und nicht von "dialektischem Materialismus", sondern Determinismus reden: vom Menschen unbeeinflußbare, aber erkennbare und nutzbare Gesetzmäßigkeiten bestimmen Materie, Bewußtsein und Gesellschaft wie auch deren Wechselwirkungen.

Das mag manchen Menschen unangenehm sein, nicht zu bestimmen, sondern bestimmt zu werden. Auch solchen, die sich "dialektische Materialisten" nannten und nennen, um dieser für sie unangenehmen Erkenntnis zu entgehen. Übrigens ist der Zusammenhang zwischen subjektiv freiem Willen / bewußtem Handeln und unbedingter, allumfassender Kausalität und damit "Vorbestimmung" selbst wieder einer, den man "dialektisch" nennen könnte:

Obwohl das Universum inklusive menschlichem Bewußtsein zu jedem Zeitpunkt und ohne jede Ausnahme von früheren Zuständen und Vorgängen ("vor"-)bestimmt ist, also ausnahmslos determiniert, ist dies vom menschlichen Bewußtsein nicht umfassend erkennbar und Zustände wie Vorgänge im Bewußtsein und das darauf beruhende menschliche Handeln sind willkürliche Faktoren der Vorgänge und Zustände im Universum.

Vertreter der "wissenschaftlichen" wie "religiösen" Weltanschauungen scheuen die Konsequenz, diesen Zusammenhang anzuerkennen, der eben nicht nur die Religion mit den Natur- / Gesellschaftwissenschaften vereinen würde, sondern damit ihr eigenes Weltbild umstürzen. Aber genau dieser Umsturz, das Umdenken, ist für eine bewußte Einflußnahme auf Materie, Bewußtsein und Gesellschaft notwendig. Er ist zentraler Bestandteil der Bibel und lautete im Griechischen "metanoia", wurde mit "Buße" übersetzt, aber dann verfremdet.

Die Angst vor diesem Umdenken und damit Hinterfragung der eigenen Weltanschauung brachte die Feindschaft gegenüber anderen Weltanschauungen hervor, die dann zerpflückt und / oder bekämpft wurden, anstatt nach Gemeinsamkeiten und neuen Erkenntnissen zu suchen. Im Mittelalter führte das zum Mord an "Ketzern", in der DDR zum "Studienmaterial zum Spezialkurs: Grundlagen des wissenschaftlichen Atheismus" (Manuskript, 1986, Autorenkollektiv unter Leitung von Prof. Dr. Olof Klohr).

Das soll keinesfalls eine Gleichsetzung bedeuten, da die Anhänger der Religionen im Sozialismus nicht als Feinde, sondern als Bündnispartner gesehen und behandelt wurden. Allerdings wurde die gemeinsame philosophische Grundlage verkannt. Worauf ich hinauswill, ist, daß sich die Erkenntnisse des Marxismus-Leninismus und der christlichen (islamischen / jüdischen) Religion ergänzen können.

Anders ausgedrückt: Dogmatismus war und ist nicht nur der "Römisch-Katholischen" Kirche eigen, sondern auch der "evangelischen" und leider auch Vertretern des "Marxismus-Leninismus". Er führt zur Festschreibung eigener falscher und Bekämpfung fremder richtiger Erkenntnisse .

So wurde - wie schon gesagt - in der DDR der Eindruck vermittelt, daß Christen und Angehörige anderer Religionen leicht rückständig, aber immerhin nützlich sind - ohne zwischen den Religionen zu differenzieren oder gar die in ihnen enthaltenen richtigen Erkenntnisse anzuerkennen.

8 Die Praxis   [zum Inhaltsverzeichnis]

Ich hätte damit nicht das geringste Problem, wenn diese Weltanschauung und ihre Umsetzung eine langzeitstabile gemeinnützige Gesellschaftsordnung hervorgebracht hätte. Leider ist das nicht so; im Sozialismus aufgewachsen, muß ich jetzt wieder in der egoistischen, kapitalistischen Gesellschaftsordnung leben. Ich beschwere mich nicht, daß "sie" (die "kommunistischen" Ideologen und Lehrer) das nicht verhindert haben. Ich bedauere nur, daß sie nicht in der Lage waren, mich davon zu überzeugen, daß WIR das verhindern müssen, womit der Fehler auch mein eigener wurde.

9 Lehren   [zum Inhaltsverzeichnis]

Der Schlüssel zur Überwindung von (scheinbaren?) Gegensätzen liegt in der Bündnispolitik. Geh mit jedem Kampfgenossen so weit, wie das Ziel gemeinsam ist und die Wege nicht gegensätzlich sind (aber keinen Schritt weiter)!

Gott oder objektive Gesetzmäßigkeiten (selbst wenn das von Manchen als unterschiedliche Begriffe verstanden wird) - das Ziel ist die globale gemeinnützige Gesellschaft (Reich Gottes bzw. Weltkommunismus). Dies wurde z.B. in der DDR verkannt, sowohl seitens der Kommunisten als auch der Christen.

So spielten die "christlichen" Kirchen eine unrühmliche Rolle bei der Beseitigung des Sozialismus durch aktive und passive Unterstützung konterrevolutionärer Kräfte. Schon die "Friedensbewegung" in den 70er Jahren ("Schwerter zu Pflugscharen") brachte das zum Ausdruck. Das hätte nicht geduldet werden dürfen, vor Allem aber zur Suche nach eigenen Fehlern führen müssen: Warum wandten sich Menschen von einem Staat ab, der zumindest offiziell dasselbe Ziel verfolgt wie sie: die Errichtung einer gemeinnützigen Gesellschaft?

Die Antwort wäre vielleicht schmerzhaft gewesen, aber hätte zur Wiederaufnahme des sozialistischen Aufbaus führen können. Hätte, wäre, wenn... . Rückgängig zu machen ist das nicht mehr. Aber es soll uns als Lehre dienen.

Ich möchte die Ursache provokativ formulieren: Schon damals waren die Heuchler unter sich, heuchlerische "Christen" und heuchlerische "Kommunisten".

10 Noch einer von mir: Gott ist Atheist   [zum Inhaltsverzeichnis]

Übrigens: wenn schon Religionskritik, dann richtig. Ich brauche dazu nur eine These:

Gott wäre Atheist, wenn er als Person existieren würde, da er an keine höhere Macht glauben kann. Er wäre durch sich selbst erkannter Bestandteil der objektiven Realität und damit auch für Andere erkennbar.

Das kritisiert aber wieder nur die kirchlichen Irrlehren. Geht man dagegen davon aus, daß von den Vordenkern der christlichen Religion die Summe und Überlagerung objektiver Gesetzmäßigkeiten bzw. ein universelles Prinzip, unbeeinflußbar, aber vom menschlichen Bewußtsein erkennbar und anwendbar, richtig erkannt und als "Gott" bezeichnet wurde, wird diese Kritik gegenstandslos.

Von dieser richtigen Erkenntnis muß ausgegangen werden, da in der Bibel die Wirkung dieser Gesetzmäßigkeiten und ihre praktische Nutzung zumindest überwiegend richtig dargestellt sind.

Torsten Reichelt

21.03.2004
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Das Umdenken