Darf ich vorstellen: Genosse Jesus, Kommunist


Als Christ und Kommunist werde ich oft gefragt, wie das zu vereinbaren ist. Die Antwort ist einfach: alle Christen sind aufgerufen, Jesus nachzufolgen. Da er Kommunist war, muß ich das auch sein.

Das mag provokativ klingen - oder wie der Versuch, mir von verschiedenen Weltanschauungen das auszusuchen, was mir in meine persönlichen Vorstellungen paßt. Deshalb werde ich nachweisen, daß jeder konsequente Christ Kommunist sein muß und die - ach so atheistischen - Kommunisten an denselben Gott glauben wie Jesus und bei Berücksichtigung christlicher Erkenntnisse zu konsequenteren Kommunisten werden.

Zunächst ein Beispiel, daß ich mit dieser Erkenntnis nicht allein dastehe: Mein Genosse und Freund, Hans Jürgen Westphal, argumentiert ebenfalls gern mit biblischen Zitaten. Für die, welche ihn nicht kennen: er steht seit der Konterrevolution (von Manchen "Wende" genannt) (fast) täglich bei Wind und Wetter mit der roten Fahne auf der Prager Straße in Dresden. Da er dabei einige Jahre auch "Die Rote Fahne", das Zentralorgan der KPD, verkaufte, ist er in Dresden auch stadtbekannt als "die rote Fahne". Einen treffenderen Spitznamen kann es schwerlich geben.

Interessant ist, daß er schon zu DDR-Zeiten im Parteilehrjahr der SED "Bibelstunden" abhielt - und die Dozenten im Parteilehrjahr waren durch und durch "Rote". Jedenfalls ist er mit der Bibel so gut vertraut, daß er den meisten "Christen" selbst ihre Religion erläutern kann und nur die besser belesenen an mich verweisen muß (ich vergaß zu erwähnen, daß ich mit ihm gemeinsam missioniere). Umgekehrt kennt er sich dafür besser in marxistisch-leninistischer Theorie aus. Wir ergänzen uns hervorragend.

Nun gut, das ist die Erscheinung, nicht das Wesen. Was ist also dran an der Übereinstimmung christlicher und kommunistischer Ideologie?

Zunächst berufen sich beide auf eine höchste, vom Menschen unveränderbare Macht, allmächtig, ewig, allgegenwärtig, allwissend, willkürlich und unsichtbar. Christen nennen sie Gott, Kommunisten objektive Gesetzmäßigkeiten.

Beide stellen den Gemeinnutz in den Mittelpunkt anzustrebenden Verhaltens. Beide Ideologien haben zentrale Grundsätze. Christen: "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.", Kommunisten: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, Jedem nach seinen Bedürfnissen." Der Inhalt ist zwar gleich, aber der Punkt für Klarheit geht eindeutig an Jesus (zugegeben hat der hier das Alte Testament, die Thora, zitiert).

Beide setzen als Grundlage der Veränderung an den ökonomischen (Produktions-) Verhältnissen an. Jesus: "Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als ein Reicher in die neue Welt Gottes kommt." Marx: [siehe "Manifest der Kommunistischen Partei", "Das Kapital" (I-III) und so ziemlich jede andere Schrift]. Der Punkt geht an Marx, da Jesus die Erkenntnis der ökonomischen Basis der Gesellschaft zu sehr komprimierte.

Eine Parallele darf ich keinesfalls unterschlagen: Jesus: "An ihren Früchten sollt Ihr sie erkennen." Kommunisten: "Das Kriterium der Wahrheit ist die Anwendbarkeit in der Praxis."

Ich könnte noch mehr Punkte vergleichen und zeigen, daß sie nicht gegenüberstehen, sondern nur wenig verschiedene Blickwinkel auf dieselbe objektiven Realität ausdrücken. Der deutlichste Ausdruck dessen steht aber nicht in den Evangelien, sondern in der Apostelgeschichte, welche die entstehenden urchristlichen Gemeinden nach Jesu Kreuzigung beschreibt:

"32Die ganze Gemeinde war ein Herz und eine Seele. Wenn einer Vermögen hatte, betrachtete er es nicht als persönliches, sondern als gemeinsames Eigentum. 33Durch ihr Wort und die Wunder, die sie vollbrachten, bezeugten die Apostel* Jesus als den auferstandenen Herrn, und Gott beschenkte die ganze Gemeinde reich mit den Wirkungen, die von Seinem Geist* ausgehen. 34Niemand aus der Gemeinde brauchte Not zu leiden. Sooft es an etwas fehlte, verkaufte irgendeiner sein Grundstück oder sein Haus 35und brachte den Erlös zu den Aposteln. Jeder bekam davon so viel, wie er nötig hatte.
36-37So machte es auch Josef, ein Levit aus Zypern, den die Apostel Barnabas nannten, das heißt "der Mann, der anderen Mut macht". Er verkaufte seinen Acker, brachte das Geld und legte es den Aposteln zu Füßen."
(Apg 4,32ff.)

Die Grundsätze der Organisation urchristlicher Gemeinden waren also: gemeinschaftliches Eigentum, auch an Produktionsmitteln (Acker, Vieh), Gemeinnutz, brüderliche Verbundenheit und nicht zuletzt die Führung durch den fortschrittlichsten, bewußtesten und konsequentesten Teil der Gemeinschaft, die Apostel (bei Kommunisten ist das die Avantgarde, die kommunistische Partei). Na ja, in Josef aus Zypern den Hinweis auf Internationalismus zu erkennen, ist vielleicht etwas zu vage - oder auch nicht.

Mit dem zeitlichen Ende biblischer Ereignisse endet aber die Geschichte der Religion nicht. Für weitere 300 Jahre breiteten sich die urchristlichen Gemeinden im ganzen Römischen Imperium und darüber hinaus aus. Sie entstanden, wo die gesellschaftlichen Bedingungen "reif" waren, die christliche Theorie in die Lebensweise umzusetzen und wechselwirkend die christliche Ideologie zu entwickeln. Kommunisten nennen das (gemäß Lenin) eine revolutionäre Situation, welche unabdingbar für die soziale Revolution ist.

An dieser Form der Verbreitung läßt sich nachweisen, daß gemeinnützige Gesellschaften lokal entstehen können und keiner "Weltrevolution" bedürfen, sowie daß keine parallele Entwicklung verschiedener Regionen erfolgen muß noch kann (womit der Trotzkismus schon vor knapp 2000 Jahren widerlegt wurde).

Und wie uns später die Interventionskriege gegen Sowjetrußland erneut lehrten, und die VR Cuba trotz jahrzehntelangen Embargos derzeit beweist, sind diese lokalen gemeinnützigen Gesellschaften durch die übermächtigen egoistischen nicht zu beseitigen, sondern dehnen sich immer weiter aus.

Bisher haben die reaktionären Kräfte immer auf demselben Weg gesiegt: Sie lullten die Führung der revolutionären Kräfte ein und / oder erpreßten / schmierten sie. Was die "Konstantinische Wende" ab AD 312 war, war kürzlich die "Wende" 1989 f.. Schon der Begriff "Wende" zeigt die erstaunliche Parallele, daß damit eine Konterrevolution verschleiert wird, der Rückfall in eine reaktionäre Klassengesellschaft. 312ff. fielen die christlichen Gemeinden in die Sklavenhaltergesellschaft zurück, 1989ff. die sozialistischen Länder in den Kapitalismus.

In beiden Fällen änderte sich auch die ökonomische Grundlage. Das gemeinschaftliche / gesellschaftliche Eigentum wurde wieder in Privateigentum umgewandelt.

Und noch eine Parallele zeigt sich: die institutionellen Kirchen bezeichnen auch die Konterrevolution 1989 als "Wende". Sie bestätigen so die geistige Gefolgschaft der Verräter des christlichen Glaubens vor fast 1700 Jahren.

Jesus lebte unter anderen Produktionsverhältnissen, seine Sprache ist nur mangelhaft in modernes Deutsch übertragbar, und dennoch sind seine Erkenntnisse denen ähnlich (oder gleich?), welche neuzeitliche Kommunisten vertreten.

Man mag einwenden, daß Jesus keine wissenschaftliche Weltanschauung hatte, was für einen Kommunisten unabdingbar ist. Aber worauf gründet sich diese Vermutung? Auf die Überlieferungen des Neuen Testaments. Das hat aber nicht Jesus geschrieben. Uns ist somit nichts über seine Weltanschauung bekannt - oder doch?

Wir kennen die Schlußfolgerungen anhand seiner Gleichnisse und unverschlüsselten Forderungen, welche er einfachen Bauern, Handwerkern und anderen Menschen seiner Zeit in ihrer Sprache vermittelte. Und die weisen auf umfangreiche zugrundeliegende soziologische Erkenntnisse hin, die weit über das dumme Gutmenschentum hinausgehen, welches wir von Humanisten und utopischen Sozialisten kennen - wie auch von heutigen "Christen".

Und er hebt - wie schon Moses - immer wieder zwei Dinge hervor: die Notwendigkeit ständig erweiterter Erkenntnis als Grundlage bewußten Handelns und die ökonomische Grundlage der damaligen Gesellschaft und der zu errichtenden (kommunistischen). Die Forderung gesellschaftlichen Eigentums an gesellschaftlichen Produktionsmitteln ist zwar nicht direkt, aber in der erwähnten Apostelgeschichte indirekt überliefert.

Außerdem ist bekannt, daß er seine Jünger als Agitatoren aussandte. Marx: "...die Theorie wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift."

Zugegeben wählte er einen anderen Weg als die Enteignung der herrschenden Klasse und die Ablösung des Staates - was, wie gesagt, dem Christentum im 4. Jahrhundert zum Verhängnis wurde. Das ist auch nicht dadurch zu relativieren, daß der Sozialismus auch weltweit vorübergehend zurückgedrängt wurde, denn das lag ja nicht an der falschen Theorie seiner Errichtung, sondern an Fehlern bei seiner Entwicklung.

Aber Jesus war sich seiner Mängel durchaus bewußt, denn er kündigte an, er werde neue Propheten und Lehrer senden - was ja bei Überzeugung von eigener Perfektion unsinnig wäre. Man sollte sich nicht an der Formulierung stören, denn auch Marx "sandte" neue Theoretiker des Kommunismus wie Lenin und Stalin, die auf seinen Erkenntnissen aufbauten und ohne sie vielleicht so weit gekommen wären wie er, aber nicht weiter.

Kurz und gut: Jesus war Kommunist, wahrscheinlich nicht aufgrund einer schwer erklärbaren Intuition, sondern einer wissenschaftlichen Weltanschauung. Er war nicht DER Kommunist, den es nicht geben kann, denn Kommunismus beruht ja gerade auf gegenseitiger Ergänzung und nicht auf der Vorstellung eines einzelnen Übermenschen.

Er war so sehr Kommunist, daß ich erst durch Verständnis der Bibel den Marxismus-Leninismus verstanden habe. Den hatte ich vorher - wie die meisten DDR-Bürger - zwar auswendig nachgeplappert, soweit das in Schule, Armee und Studium nötig war, aber überzeugt hatte er mich nicht.

28.07.2004, geändert am 30.07.2004

Torsten Reichelt

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