Mißbrauchte Nächstenliebe


Oft wird behauptet, die christliche Religion fordere die Nächstenliebe. Das wurde und wird unter Anderem dazu mißbraucht, Leuten einzureden, sie müßten Alles dulden und sich aufopfern, auch zum eigenen Schaden. Sonst wären sie keine guten Christen und kämen nicht in den Himmel.


Inhalt
1. Der volle Text
2. Mal ohne Religion
3. Praktische Bedeutung
4. Ein Beispiel
5. Die Ergänzung Jesu


1. Der volle Text   [zum Inhaltsverzeichnis]

Dabei lautet das Gebot: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, denn ich bin der Herr." (3. Mose 19,18). Nicht Nächstenliebe ist geboten, sondern gleiche Nächsten- und Selbstliebe. Wenn die Formulierung mehrfach an wesentlichen Stellen der Heiligen Schrift wiederholt wird, so ist das weder Ausschmückung noch dient sie der Verlängerung der ohnehin schon langen Bibel.

Der kurze Satz beschreibt eine komplette Strategie, welches Verhalten zum optimalen Nutzen einer Gemeinschaft und aller Mitglieder führt. Der Hinweis "ich bin der Herr" betont, daß das keine gutgemeinte Anregung ist, ein netter Mensch zu sein, sondern ein Gesetz - wer davon abweicht, richtet Schaden für sich und/oder Andere an.


2. Mal ohne Religion   [zum Inhaltsverzeichnis]

Dieses Prinzip findet sich auch in "netten" Strategien zur Lösung des Gefangenendilemmas wieder, die sich anderen überlegen zeigten. (Das Gefangenendilemma ist eine Spieltheorie zur Ermittlung optimaler Verhaltensstrategien in Gemeinschaften, z.B.: Das Gefangenendilemma ). Grundzüge einer "netten" Strategie ("tit-for-tat") sind: Einem unbekannten Gegenüber wird zuerst Kooperation (gemeinsamer Nutzen) angeboten. Antwortet es mit Kooperation, handle auch ich weiter kooperativ, verweigert es (d.h. handelt eigennützig), verweigere ich ebenfalls, bis es von sich aus Kooperation anbietet.

Auf gut deutsch: Ich nutze nicht aus und lasse mich nicht ausnutzen, als Nächsten- und Selbstliebe. Diese Strategie erweist sich in Computersimulationen auch dann als optimal, wenn (anders als im Original, welches von zwei Personen und einer einmaligen Handlung ausgeht) mehrere Spieler in aufeinanderfogenden Runden angenommen werden, also das Modell auf große Gruppen mit zeitlich unbestimmten Beziehungen übertragen wird (siehe z.B. ebenfalls vorgenannte Verknüpfung).


3. Praktische Bedeutung   [zum Inhaltsverzeichnis]

Welche praktischen Schlußfolgerungen hat das? Jede Handlung eines Menschen hat einen unmittelbaren Handlungspartner. Das kann ein Mensch, eine Gruppe, aber auch irgendein anderer belebter oder unbelebter Teil des Universums sein. Das Ziel ist der größtmögliche Nutzen oder geringstmögliche Schaden für Handelnden und Partner, wenn man sie als Gemeinschaft betrachtet. Jedes Ungleichgewicht der Nutzenverteilung schadet dem Gesamtergebnis.

Die Kunst besteht darin, die Handlungsteilnehmer und das Handlungsziel zu bestimmen. Üblicherweise weiß man dabei, ob man bescheißen will und merkt, wenn man beschissen wird.


4. Ein Beispiel   [zum Inhaltsverzeichnis]

Um das in kleinerem und größerem Rahmen deutlich zu machen, ein fiktives Beispiel aus dem Leben meiner Lieblinge, der Politiker: Bauunternehmer A "spendet" Abgeordnetem B 1 Million €, und bekommt dafür kommunale Aufträge mit einem Umfang von 10 Millionen €. Von denen landen 1,5 Millionen € in der Tasche von Bauunternehmer A.

Nächsten- und Selbstliebe in Reinkultur, also ganz im Sinne der Bibel? Mitnichten. Beide schaffen in anderen Bereichen ihres Umfelds dafür ein Ungleichgewicht. Der Bauunternehmer hat die Spendenmillion seinen Beschäftigten und Kunden entzogen, ihnen also bewußt geschadet. Der Abgeordnete B hätte nicht geschmiert werden müssen, wenn nicht Bauunternehmer C dieselben Aufträge für 8 Millionen € erledigen würde. Abgeordneter B schadet also bewußt der Kommune und damit jedem ihrer Bürger.


5. Die Ergänzung Jesu   [zum Inhaltsverzeichnis]

Das heißt, Handeln nach dem Gebot der Nächsten- und Selbstliebe muß alle Handlungen betreffen und nicht nur die, die einem besonders am Herzen liegen. Daher muß auch der Feind als Nächster betrachtet werden, was Jesus ja auch recht anschaulich macht:

"46Wie könnt ihr von Gott eine Belohnung erwarten, wenn ihr nur die liebt, die euch auch lieben? Sogar Betrüger lieben ihresgleichen. 47Was ist denn schon Besonderes daran, wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid? Das tun auch die, die Gott nicht kennen." (Matthäus 5,46f.)

Ich wundere mich immer wieder, wie präzise er beschreibt, was damals wahrscheinlich unbekannt war. Das sind für mich viel größere Wunder als Heilungen und Anderes, weil sie noch heute unumstößlich nachweisbar sind. Aber dafür ist er ja auch Jesus.


21.01.2003

Torsten Reichelt

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